Die Basis, das unbekannte Wesen

Immer, wenn bei den Grünen eine wichtige Entscheidung ansteht, wird sie beschworen: die berühmte „Basis“. Auch andere Parteien haben eine Basis, aber die Grünen haben sich „basisdemokratisch“ als einen ihrer Grundwerte auf die Fahnen geschrieben, insofern überrascht nicht, dass sie hier eine besondere Rolle zu spielen scheint. Am liebsten wird „die Basis“ in Verbindung mit Verben wie „brodeln“ oder „revoltieren“ in Verbindung gebracht, manchmal auch mit Adjektiven wie „folgsam“, „rebellisch“, je nach Stimmungslage.

Aber wer ist das eigentlich, „die Basis“? Wer trifft bei den Grünen die Entscheidungen?

Basis eine Säule
Basis einer Säule, Credits: https://commons.wikimedia.org/wiki/User:Ikiwaner
Der Parlamentsklub

Noch 2019 waren die Abgeordneten die absolute Spitze der Partei. Es gab keine höherrangigen Vertreter_innen, und auch diese waren erst ganz neu wieder in den Nationalrat eingezogen. Das ist jetzt anders. Der Vizekanzler ist ein Grüner, drei Ministerien werden von Grünen geleitet. Die Abgeordneten und auch die fünf Grünen Mitglieder des Bundesrates sind aber natürlich in alle Verhandlungen eingebunden. Ohne ihrer Unterstützung kann die Regierung nicht weiter bestehen. Schon sechs Grüne Stimmen könnten einen Misstrauensantrag der Opposition zum Erfolg führen, vorausgesetzt, die Opposition stimmt geschlossen ab. Der Parlamentsklub mag aktuell nur die zweite Reihe sein, die „Basis“ ist das aber sicher nicht.

Die Bundesländer

In allen neun Bundesländern gibt es Grüne Landesgruppen, die außer in Kärnten auch in allen Landtagen vertreten sind. Es gibt zahlreiche formelle und informelle Foren, in denen sich Vertreter_innen der Landesgruppen austauschen. Alle gemeinsam beschicken den erweiterten Bundesvorstand, es gibt Runden der Landesgeschäftsführer_innen, der Finanzreferent_innen und so weiter, wie in allen Parteien.

Natürlich haben die Landesparteien auch alle ihre eigenen Gremien. Die heißen ganz unterschiedlich und auch die Struktur und Beschickung ist nicht einheitlich. Manche bestehen aus Menschen, die Vollzeit in der Politik arbeiten, mache wenigstens teilweise aus Ehrenamtlichen. Da kommen wir der „Basis“ schon näher.

Ausnahmslos Berufspolitiker_innen sind die ca. 50 Landtagsabgeordneten und Mitglieder der Landesregierungen. Diese sind ein bisschen in einer Sandwichposition. Einerseits haben sie einen beträchtlichen Informationsvorsprung gegenüber den ehrenamtlich tätigen Aktivist_innen und auch direkten Zugang zu den diversen Spitzenfunktionär_innen, andererseits sind sie aber in den Bezirken und Gemeinden relativ fest verankert. Das versetzt sie natürlich in die Lage, Stimmungen aufzunehmen und weiter zu tragen, und auch ihre inhaltliche und strategische Einschätzung ist von besonderer Bedeutung.

Der Bundeskongress

Alle bisher Genannten sind Delegierte am Bundeskongress, dem höchsten beschlussfassenden Gremium der Bundespartei. Es handelt sich dabei um keine Mitgliederversammlung; vielmehr besteht der Buko etwa je zur Hälfte aus Amtsträger_innen und gewählten Delegierten der Landesparteien. Die Anzahl teilt sich nach einem Bevölkerungsschlüssel auf, kein Land hat weniger als neun Delegierte, Wien als größtes Bundesland 29. (Yours truly ist einer davon.)

Wenn wir etwas vom „Aufstand der Basis“ lesen, ist meistens der Bundeskongress gemeint. Im Vergleich zur Mitgliederzahl handelt es sich um relativ wenige Menschen, die meisten davon verdienen noch dazu Geld in der Politik (wenn auch sehr unterschiedlich viel). Dennoch: Nirgendwo sonst sind mehr Grüne aus dem ganzen Land versammelt, nirgendwo gibt es einen breiteren Austausch. Nirgendwo ist die Spitze der Partei für einen größeren Kreis direkt zugänglich.

Im Zuge einer Regierungsbildung hat der Bundeskongress eine Reihe von wichtigen Kompetenzen. Regierungsmitglieder müssen bestätigt, das Regierungsprogramm beschlossen werden. Verweigert der Buko seine Zustimmung, können die Grünen nicht in eine Regierung eintreten.

Beendet wird die Koalition aber anders. Es gibt 100 Wege, die zum Ende einer Regierung fallen. Der Bundespräsident kann sie entlassen. Der Nationalrat kann ihr das Vertrauen versagen. In der Abstimmung sind die Abgeordneten völlig frei in ihrem Mandant und an keine Beschlüsse der Partei gebunden.

Die Mitarbeiter_innen

Eine Sonderstellung nehmen die Mitarbeiter_innen in der Bundes- und Landesparteien, in den Kabinetten und auch den im Parlament und den Landtagen ein. Bei weitem nicht alle von ihnen sind Parteimitglieder. Manche haben Mandate in Gemeinderäten oder Bezirksvertretungen, aber die Mehrheit ist das meiner Einschätzung nach nicht. Sie stellen ihre Expertise zu einem Fachbereich den Abgeordneten oder Regierenden zur Verfügung. Manche von ihnen arbeiten schon seit vielen Jahren in ihrer Rolle, vor allem Jüngere wechseln nach einigen Jahren die Seite und bewerben sich um ein Mandat. Das ist keine Besonderheit der Grünen. Klub- und Kabinettsmitarbeiter_innen sind in allen Parteien die wichtigste Personalreserve.

Grüne in Ländern, Städten und Gemeinden

In Wien sind wir als Grüne in einer sehr bequemen Position: In allen 23 Bezirken gibt es Bezirksgruppen, die auch alle Mandate in ihrer jeweiligen Bezirksvertretungen haben. Drei Bezirke, der Neubau, die Josefstadt und Währing, werden überhaupt Grün regiert.

In den anderen Bundesländern sieht es längst nicht so rosig aus. Erst seit 2018 stellt die Partei überhaupt erstmals einen Bürgermeister (Georg Willi in Innsbruck). Die Zahl der Gemeindegruppen wächst tendenziell, von einer flächendeckenden Vertretung kann aber noch lange nicht die Rede sein.

Wo es sie gibt, sind die kommunalen Gruppen für Neueinsteigende natürlich die leichteste Möglichkeit anzudocken. Das hat Vor- und Nachteile. Man trifft sich oft, hat oft gemeinsame, ganz konkrete Anliegen – das eine unmöglich Bauprojekt, die Straße, die Schule – und einen ähnlichen Informationsstand. Andererseits ist die Kommunalpolitik auch ein ganz besonderes Milieu. Die großen Dinge, die überall in Österreich diskutiert werden, stehen dort nicht zur Debatte. Nicht jede_r interessiert sich für den langwierigen Kampf um jede einzelne Parkbank, während man gleichzeitig von Informationen und Entscheidungen oft ausgeschlossen ist.

Hier ist sie also, die „Basis“. Bleibt die Frage, wie kann sie Druck machen? Ein Vorteil, den eine kleine Partei für Politikinteressierte hat, ist der Umstand, dass die Strukturen sehr schlank und die Hierarchien daher sehr flach sind. Es ist leicht, Kontakt zumindest auf die Landesebene zu bekommen. Niemand muss sich über Jahre, Jahrzehnte hochdienen, um gehört zu werden. Alle Listen werden auf Mitgliederversammlungen gewählt, niemals von irgendwelchen Führungsfiguren bestimmt, daher haben alle Mandatar_innen ein Interesse daran, die Leute zu kennen und nicht nur aus den Medien bekannt zu sein. Natürlich gibt es dazwischen Aggregatoren, aber relativ wenige, und jedenfalls nicht viele isolierte Schichten. Entscheidungen fallen selten im sprichwörtlichen Hinterzimmer und müssen immer gerechtfertigt werden. Anders als bei anderen Parteien gibt es bei den Grünen wenige Wahlkreismandate und keine Bezirkskaiser. Stattdessen sind alle überall unterwegs und relativ leicht greifbar. Das ist letztlich, was „der Basis“ ihren Einfluss verschafft.

Wer braucht schon echten Fortschritt?

In den letzten Wochen haben wir alle die bunten Infografiken dieser Art gesehen:

Abstimmungsverhalten im Gleichbehandlungsausschuss: Sechs Anträge, vier davon abgelehnt

Was steckt dahinter? Verkaufen die Grünen ihre Werte? Verraten sie die LGBTIQA*-Community, Geflüchtete, all die Menschen, für die sie sich bisher eingesetzt haben? Was ist da passiert?

Zuerst einmal die Fakten: Das konkrete Bild stammt von den NEOS. Es stellt das Abstimmungsverhalten der einzelnen Parteien in einer Sitzung des Gleichbehandlungsausschusses im Juni 2021 da. Wie oft im Pridemonat Juni ging es dort um Themen, die queere Menschen betreffen. Wir sehen sechs Anträge. Auffällig ist, dass vier Anträge mit den Stimmen der Regierungsparteien, der ÖVP und eben auch der Grünen, abgelehnt wurden. Zwei weitere Beschlüsse wurden einstimmig gefasst und inzwischen auch im Plenum des Nationalrates angenommen.

Warum also stimmen die Grünen gegen queere Jugendarbeit, Aufklärung und Bildung? Und was ist der Unterschied zwischen diesen Anträgen und den beiden anderen?

Die Wiener Gemeinderätin Jennifer Kickert ist Gründungsmitglied der Grünen Andersrum und bis heute aktiv. Bild: Cajetan Perwein
Die Wiener Gemeinderätin Jennifer Kickert ist Gründungsmitglied der Grünen Andersrum und bis heute aktiv. Bild: Cajetan Perwein

Koalitionen funktionieren in Österreich so: Man einigt sich auf ein Programm, und dann verhandelt man fünf Jahre lang die Details. Neue Themen können aufgenommen werden, aber nur, wenn die Partnerin zustimmt. Wenn nicht, stimmen beide Parteien dagegen. Anderes Verhalten wäre ein Koalitionsbruch und würde zu baldigen Neuwahlen führen.

Was braucht es also, damit ein Beschluss zustandekommt? Das ist aktuell recht leicht gesagt: Die Zustimmung der ÖVP. Allerdings hat diese Partei eine lange Geschichte queerfeindlicher Politik. Diese Zustimmung ist also praktisch nicht zu bekommen.

Wir erinnern uns: Viele Jahrzehnte hat die SPÖ als größere Partnerin gemeinsam mit der ÖVP die Regierung gebildet. Was wurde in dieser Zeit für die Community im Parlament erreicht? Wenig. 1989 wurde das Verbot mann-männlicher Prostitution aufgehoben, 1997 fielen das Werbe- und das Vereinsverbot (nicht zuletzt auf Drängen des Liberalen Forums). Andere Fortschritte wurden von Angehörigen der Community selbst vor Gericht erkämpft, meist gegen der Widerstand der Regierung erst vor dem Verfassungsgerichtshof oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Und jetzt finden sich auf einmal die Grünen in dieser Situation und haben sich genauso aufgegeben, oder? ODER?

Mitnichten. Hier kommen die beiden Beschlüsse ins Spiel, die am Anfang und Ende der obigen Infografik aufscheinen. „Umpolungstherapien“, im englischen Original „conversion therapy“, sind keine Therapie, sondern Folter an Jugendlichen mit dem Ziel, ihnen das Queersein auszutreiben. Anders als der Name nahelegt, passiert das nicht bei eine_r Therapeut_in – diese Berufsgruppe darf derartige Behandlungen schon länger nicht anbieten – sondern meist im religiösen Kontext. Noch 2019 sah die SPÖ hier nach einem einstimmig beschlossenen Initiativantrag keinen Handlungsbedarf mehr, wir haben uns trotzdem für ein ausdrückliches Verbot eingesetzt und nach zähen Gesprächen mit der ÖVP auch erreicht.

Intergeschlechtliche Kinder sind solche, die nicht mit eindeutig männlichen oder weiblichen Geschlechtsmerkmalen auf die Welt kommen. Anders als uns die konservative Propaganda glauben machen will, gibt es nämlich auch biologisch nicht nur Männer und Frauen, sondern – sowohl was die Gene als auch was die äußeren Merkmale betrifft – allerlei Ausprägungen dazwischen. Früher war es üblich, betroffene Neugeborene im Säuglingsalter geschlechtsanpassend zu operieren. Weibliche Geschlechtsmerkmale sind leichter zu simulieren, daher war und ist das meist das Ergebnis. Medizinisch besteht dazu nur sehr selten eine Notwendigkeit; die Operationen kommen daher oft einer Kastration gleich und schaffen große Schwierigkeiten später im Leben.

Es sollte also Konsens sein, dass diese Operationen nicht mehr stattfinden. Ist es jetzt auch. Von selber ist das aber nicht passiert, das hat lange und intensive Verhandlungen gebraucht.

Was ist jetzt mit den anderen Anträgen? Deren Genese ist eine völlig andere. Parteien können in den Ausschüssen jederzeit Anträge einbringen, Abgabe kurz vor der Sitzung genügt. Verhandlungen finden nicht statt, werden auch nicht angestrebt. Man macht das nicht, weil man irgendwas erreichen will, nicht einmal, um ein Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Diese Anträge dienen oft nur einem einzigen Zweck, nämlich der Produktion eben jener Infografiken, die dann landauf, landab geteilt werden, in der Hoffnung, dass möglichst viele Leute den Unterschied nicht verstehen und darauf hereinfallen.

Es ist natürlich Aufgabe der Opposition, Druck auf die Regierung auszuüben, mehr zu verlangen, größere Schritte zu fordern und Visionen zu entwickeln. Dazu gehört auch, die Diskrepanz zwischen dem, was möglich ist, und dem, was sein sollte, öffentlich zu machen. Das passiert hier aber nicht. Hier kommen immer die im Prinzip gleichen Anträge mit immer dem gleichen – beabsichtigten – Ergebnis. So leicht darf man es sich als Opposition auch wieder nicht machen!

Nationalrätin Ewa Ernst-Dziedzic und Bundesrat Marco Schreuder. Beide kämpfen seit vielen Jahren für die Anliegen der Community. Bild: Cajetan Perwein
Nationalrätin Ewa Ernst-Dziedzic und Bundesrat Marco Schreuder. Beide kämpfen seit vielen Jahren für die Anliegen der Community. Bild: Cajetan Perwein

Besonders deutlich sieht man das übrigens am Verhalten der FPÖ, die an sich nicht dafür bekannt ist, sich für die Anliegen queerer Menschen einzusetzen – ganz im Gegenteil.

Leider verfängt diese Strategie, und das schadet weniger den Grünen – wir halten das aus, und die Umfragen geben uns recht – sondern der Community. Nicht zuletzt ist das den wenigen langjährigen Kämpfer_innen gegenüber ungerecht. Ulrike Lunacek und später Marco Schreuder standen da lange Zeit im Parlament ganz allein auf weiter Flur, und jetzt müssen sie sich wegen dieser billigen Propaganda auf der Pride anspucken lassen. Das geht nicht.

Kabuki-Theater im österreichischen Nationalrat

Kabuki ist die traditionelle japanische Form des Theaters, die sich durch eine besonders stilisierte Form auszeichnet.  Die Stücke sind großteils hunderte von Jahren alt; die Handlung, die Figuren, auch die Kostüme und Inszenierung sind längst bekannt. All das tut der Popularität dieser Kunstform jedoch keinen Abbruch. Man konzentriert sich auf der Bühne auf die Perfektion der Ausführung, die das gebildete Publikum beurteilen kann und zu schätzen weiß.

Bild: GanMed64 auf flickr cc-by-sa
Bild: GanMed64 on flickr cc-by-sa

Was das mit österreichischer Innenpolitik zu tun hat? Wir beobachten im Parlament ganz ähnliche Prozesse. Die Handlung geht in etwa so: Continue reading „Kabuki-Theater im österreichischen Nationalrat“

Lasst sie uns an den Taten messen

Seit die ÖVP wenige Tage nach der Wahl Gespräche mit den Freiheitlichen zur Bildung einer Koalition aufgenommen hat, steht die neue Führungsriege der Republik im Kreuzfeuer der Kritik. Gründe dafür gibt es zweifellos genug, von der Personalauswahl der Verhandlungsteams, dem Umgang mit dem Parlament, bis hin zu zahlreichen Wortmeldungen handelnder Personen.
Bundeskanzler Sebastian Kurz‘ rechte Hand, der neue Kanzleramtsminister Gernot Blümel, fühlte sich schon wenige Tage nach ihrer Bildung zwischen Weihnachten und Neujahr bemüßigt, uns zu bitten, die neue Bundesregierung doch an ihren Taten zu messen. Wo genau er in der Politik die Grenze zwischen Aussagen und Taten zieht, erklärt Blümel nicht. Egal. Nehmen wir ihn beim Wort.

Was sind also die Taten der neuen Bundesregierung? Welche Maßnahmen hat sie bisher gesetzt oder konkret angekündigt?

Frauen zurück an den Herd

Da wäre einmal der Stellenwert, den die neue Kompetenzverteilung der weiblichen Mehrheit der Bevölkerung einräumt. Statt in einem Ministerium sind die Frauenagenden nunmehr im Bundeskanzleramt angesiedelt, und zwar nicht direkt beim Bundeskanzler, sondern bei Ministerin Juliane Bogner-Strauß. Man mag jetzt kritisieren, dass das an sich eine Abwertung darstellt, aber viel problematischer ist die für Konservative typische Gleichsetzung von Frauen- und Familienpolitik. Der Platz der Frau ist zuerst in der Familie, daher ist Familienpolitik Frauenpolitik, und Frauenpolitik ist Familienpolitik. Konsequenterweise finden sich die Zuständigkeiten für beide Bereiche jetzt in einer Hand, wobei „Familie“ im Regierungsprogramm (Seite 9) als eines der „Prinzipien“ definiert wird:

„Die Familie als Gemeinschaft von Frau und Mann mit gemeinsamen Kindern ist die natürliche Keimzelle und Klammer für eine funktionierende Gesellschaft und garantiert zusammen mit der Solidarität der Generationen unsere Zukunftsfähigkeit. Für uns stehen vor allem die Kinder im Mittelpunkt – Familie soll ein Ort sein, wo sie behütet aufwachsen können und gut auf das Leben vorbereitet werden.“

Wie schlägt sich dieses Prinzip nun in konkreten Taten nieder? Eine der ersten Maßnahmen, welche die Koalition in die Wege geleitet hat, ist eine klassische Herdprämie, pardon, ein „Familienbonus“. Derartige Transferleistungen gehören zur Grundausstattung des konservativen politischen Inventars. Im Kern geht es darum, dass es attraktiver wird, wenn ein Elternteil – fast immer die Frau – daheim bleibt und sich um die Kinder kümmert. Der „Familienbonus“ erreicht das, indem er den bestehenden Absetzbetrag für Kinderbetreuungskosten ersetzt. Letzterer kann nur in Anspruch genommen werden, wenn auch tatsächlich Betreuungskosten außer Haus anfallen. Für den „Familienbonus“ gilt das nicht, die Familie profitiert also davon, wenn die Kinder gratis betreut werden. Die Auswirkungen ähnlicher Maßnahmen in anderen Ländern sind je nach Ausgestaltung unterschiedlich, der Verdrängungseffekt vom Arbeitsmarkt in den häuslichen Bereich ist aber jedenfalls messbar.

Die Politisierung der hohen Beamtenschaft

Schon bisher gab es im Außenministerium die Funktion eines Generalsekretärs. Ein prominenter Amtsinhaber etwa war der langjährige Spitzendiplomat Thomas Klestil, der aus diesem Amt heraus 1992 zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Die neue Regierung führt die Funktion jetzt in allen Ministerien ein. Die Generalsekretäre bedürfen, wenn sie selbst keinen Beamtenstatus haben, nicht der Bestätigung durch den Bundespräsidenten, sind aber dennoch gegenüber den Sektionschefs weisungsbefugt. Gemeinsam mit einer wieder steigenden Zahl an Mitarbeitern in den nur dem Minister persönlich verpflichteten Kabinetten stellen die Generalsekretäre einen weiteren Schritt in Richtung einer immer stärker politisierten Hoheitsverwaltung dar.

Der sozialpolitische Kahlschlag

Lassen wir einmal die Krankenkassen außen vor. Wir wollen die Regierung ja an den Taten messen, und in diesem Bereich sehe ich bisher nicht mehr als vage Vorschläge.
Wer in den nächsten Jahren die Arbeit verliert und nicht bald wieder eine findet, dem bläst allerdings verlässlich ein rauer Wind entgegen. Diese Maßnahme ist dem Bundeskanzler so wichtig, dass er sich dabei auf keinen Fall in die Parade fahren lassen will und sogar gleich am Anfang den offenen Konflikt in seinem Kabinett in Kauf nimmt. Die Sache fußt natürlich auf der arroganten Annahme, dass Menschen, die lange arbeitslos sind, einfach zu faul sind, sich eine Stelle zu suchen. Dieser klassische konservativ-neoliberal Spin ist von den Tatsachen weit entfernt.
Mit geht es dabei nicht um irgend einen diffusen Gerechtigkeitsbegriff. „Gerechtigkeit“ ist vielleicht das am meisten überstrapazierte Wort unserer Zeit. Im letzten Wahlkampf hat es wirklich jede und jeder im Mund geführt, und was die Parteien damit meinten, hätte unterschiedlicher nicht sein können. So ein Begriff ist keine geeignete Grundlage für politisches Handeln.
Die wachsende Soziale Ungleichheit darf aber auch den Gutsituierten unter uns nicht egal sein, schon aus Gründen des Selbstschutzes. Armut ist nicht die Ursache von Kriminalität, in dem Sinn, dass wer arm ist, etwa zum Verbrechen neige. Aber eine wachsende Ungleichheit geht systemisch oft mit einer steigenden Anzahl vor allem von Eigentumsdelikten einher. Sozialpolitik ist eben immer auch Sicherheitspolitik, und zwar die wesentlich effektivere als die, die im Augenblick auf uns zu kommt. Aber vielleicht ist das einigen ja auch ganz recht so.

Sobotkas Spitzelpaket

Es war die Aufregung des Sommers und fand, für derartige Themen sehr ungewöhnlich, sogar Eingang in den beginnenden Wahlkampf: ÖVP-Innenminister Wolfgang Sobotka wollte die anlasslose Überwachung der gesamten Bevölkerung und schreckte dabei vor tiefen Eingriffen in die Grundrechte ebenso wenig zurück wie vor technisch unpraktikablen Lösungen. Die FPÖ stand dem damals sehr kritisch gegenüber. Nach der Wahl will Neo-Innenminister Kickl nun genau dasselbe Paket so schnell wie möglich durchwinken. Natürlich hat sich an der Grundrechtswidrigkeit seither nichts geändert, und eine praktikable technische Umsetzung ist auch nicht über Nacht aufgetaucht. Die 180°-Wendung der FPÖ in diesem Punkt ist jedenfalls beachtlich. Und das ist vielleicht nur ein Vorgeschmack.

Die europapolitische Zündelei

Wie kommt man eigentlich auf die Idee, diese Regierung als pro-europäisch einzuordnen? Wir haben einen Bundeskanzler, der in seiner früheren Funktion auf der Europäischen Bühne vor allem durch Abwesenheit glänzte., der unsere wichtigsten Verbündeten, allen voran die Deutschen und Bundeskanzlerin Angela Merkel, seit Jahren mit seiner Politik vor den Kopf stößt.

Das ist an sich nichts Neues. Vorangegangene österreichische Regierungen verfolgten auf europäischer Ebene keine Herzensthemen, zeigten kein besonderes Engagement für irgendwelche Materien und erarbeiteten sich so auch nicht jenes politische Kapital, das für die Durchsetzung eigener Interessen in Brüssel unumgänglich ist. Eine Ausnahme gab es: Abschiebungen. „Österreich ist in keinem Bereich der EU so engagiert wie bei Frontex“, schrieb die deutsche Zeit schon 2010. Das österreichische Selbst- und Fremdbild klaffen in keiner Frage so weit auseinander wie in unserer Position zur Europäischen Union.

Neu ist, dass sich die Koalition jetzt offen von den großen Playern der Union ab- und den demokratisch teils zweifelhaften Regimen der Visegrad-Gruppe zuwendet. Und natürlich, dass mit der FPÖ jetzt ein Mitglied der rechts außen verorteten und die Europäische, wie eigentlich jede, Integration offen ablehnenden ENF-Fraktion der Regierung angehört, die, von staatstragendendem Geist nicht unbedingt erfüllt, das Zündeln nicht lassen kann.

Der umweltpolitische Offenbarungseid

Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Was ist schlimmer? Dass die Umwelt weiterhin in puncto Zuständigkeit ein Anhängsel der Landwirtschaft bleibt (was keineswegs zwingend ein Widerspruch sein muss, in der konkreten österreichischen Politik aber an den sprichwörtlichen Bock erinnert, der hier buchstäblich zum Gärtner gemacht wird)? Dass die Umwelt(!)ministerin für Schneekanonen, Tempo 140 auf Autobahnen und die umstrittene dritte Piste am Schwechater Flughafen eintritt? Dass sie wirksame klimapolitische Maßnahmen rundheraus ablehnt? Oder doch die angestrebte Senkung aller möglichen Standards, vom geschwächten UVP-Verfahren (im Regierungsprogramm auf Seite 134 als „Durchforstung der umweltrechtlichen Materiengesetze betreffend öffentliches Interesse hinsichtlich unbestimmter Gesetzesbegriffe“ verschwurbelt), das etwa den Widerstand gegen den teuren und schädlichen Lobautunnel brechen soll, über die plötzliche Zustimmung der FPÖ zu CETA bis hin — natürlich — zum Nichtraucherschutz, der auf die lange Bank geschoben werden soll. Alles Maßnahmen, die dazu führen werden, dass Menschen sterben, übrigens.
Dem gegenüber stehen vage Ankündigungen zu Klimazielen, Kohleausstieg und ähnlichem.

Aber daran sollen und wollen wir die neue Regierung ja nicht messen.