Wie hast du’s mit der Solidarität?

In den letzten Wochen habe ich viel Zeit mit Aktivist*innen der Klimabewegung verbracht. Ich habe die besetzten Baustellen und das Basiscamp besucht, Material vorbei gebracht, mitgearbeitet und mit den Leuten geredet.

Anders als in den Medien oft dargestellt, ist die Bewegung sehr, sehr vielfältig und besteht keinesweg nur aus jungen Leuten. Natürlich, je jünger man ist, desto drastischere Auswirkungen der Erderhitzung muss man in seiner Lebenszeit erwarten. Aber es gibt auch viele, die über die eigene Lebenszeit hinaus denken, oder die in der Lage sind, sich eine andere, bessere Welt vorzustellen oder eine lebenswertere Stadt, die wir in wenigen Jahren schaffen könnten, wenn wir nur wollten.

Auf der anderen Seite der Auseinandersetzung steht, und das ist für eine progressive, solidarische Partei vielleicht überraschend, die SPÖ. Wie kommt es eigentlich dazu?

Aus der Geschichte lernen

Ein kurzer Blick in die Geschichte gibt Aufschluss. Was „fortschrittlich“ war, hat sich in den letzten zwei Jahrhunderten immer wieder gründlich gewandelt. Der Fortschritt des einen Jahrzehnts ist oft der Stillstand des nächsten.

Kaiser Joseph II. war seiner Zeit in vielen Dingen voraus. Als absolutistischer Herrscher hat er es allerdings verabsäumt, seine Bevölkerung mitzunehmen, weswegen viele seiner Maßnahmen keinen Bestand hatten und zurückgenommen wurden.

Im 19. Jahrhundert war der (deutsche) Nationalstaat ein Fortschritt im Vergleich zur feudalen Kleinstaaterei, und die FPÖ steckt immer noch in diesem Stadium. Daher berufen sie sich auf 1848, obwohl sich die Ideale der Revolution seither nahezu in ihr Gegenteil gewandelt haben.

1888 war die Organisation der Arbeiter*innenschaft unter dem rauchenden Schlot ein Fortschritt. Nach dem zweiten Weltkrieg der (bescheidene) Wohlstand für alle, symbolisiert durch die Auto-Mobilität. Dieses Bild vom „Fortschritt durch rauchende Schlote“ prägt die Sozialdemokratie seit 150 Jahren, und es folgt dabei einer Logik, die durchaus nicht immer zwingend ist.

Es geht also nicht um einen allgemeinen, flexiblen, aufgeschlossenen Blick nach vorne, sondern um eine ganz bestimmte Vorstellung von Fortschritt. Und plötzlich kommen da Leute, die eigentlich ihre natürlichen Verbündeten sein sollten, und sagen ihnen, das ist nicht nur kein Fortschritt, sondern sogar eine Gefahr für den Fortbestand der Zivilisation. Das trifft natürlich ins Mark.

Was ist der Fortschritt heute? Ist das dasselbe wie Innovation? Und geht es dabei nur um die Vermittlung, oder hat sich der Begriff grundsätzlich gewandelt? Wie können wir sicherstellen, dass aus dem technologischen Fortschritt auch sozialer Fortschritt wird?

Nicht alles ist Wirtschaft
Geld
cc-by-sa 4.0 Leon Petrosyan

In letzter Zeit finden wir immer öfter die Vertreter*innen der „Wirtschaft“ – Wirtschaftskammer und ÖVP-Wirtschaftsbund – auf der selben Seite wie die SPÖ. Das überrascht nur auf den ersten Blick. Beide betrachten gesellschaftliche Problemstellungen nur oder hauptsächlich aus dem ökonomischen Aspekt. Sie stehen dabei natürlich auf gegensätzlichen Seiten, wenn es um Macht- und Verteilungsfragen geht, aber beide stellen die Ökonomie in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Im Gegensatz dazu vertritt die Klimabewegung einen viel radikaleren Ansatz. Weg vom Wachstum, hin zur Nachhaltigkeit; den Verbrauch natürlicher Ressourcen als die Zerstörung ansehen, die sie ist, und nicht als volkswirtschaftlichen Gewinn – das ist weder für „die Wirtschaft“ noch für den Großteil der Sozialdemokratie anschlussfähig.

Wir werden sehen, ob es der SPÖ (und im übrigen auch sozialdemokratischen Parteien in anderen Ländern) gelingt, ihre Perspektive zu verschieben. Ich hoffe es sehr.

Auch der alte Grundwert der Solidarität wird unter diesem und anderen Aspekten neu bewertet, und auch das geht nicht ohne Verwerfungen ab. Da kommt eine Gruppe, die sagt, Benachteiligung muss nicht unbedingt ökonomisch sein, es gibt auch noch viele andere Formen der Benachteiligung, und wir wollen verdammt noch einmal auch dafür eure volle Solidarität. None of us are free until all are free, gilt das etwa nicht mehr?

Leider lassen wir uns in dieser Debatte zusehends spalten. Leute, die jahrzehntelang gegen Privilegien gekämpft haben, gegen ökonomische Benachteiligung, Sexismus, Rassismus, gehen plötzlich in die Falle und stellen sich auf die Seite der Diskriminierung.

Es ist eigentlich ganz einfach

Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Es ist eigentlich ganz einfach. Je kleiner und weiter weg von der angeblich gesellschaftlichen Norm (mit den Worten von ihr-wisst-schon-wem: „skurriler“) eine Gruppe ist, desto gefährdeter sind die Leute, die ihr zugeordnet werden, und desto mehr Solidarität und Unterstützung von Allys brauchen sie. Ja, ich weiß, das ist mühsam, der Lingo ist noch nicht gesettlet und man muss dauernd dazu lernen. Plötzlich ist von „Menschen, die menstruieren“ die Rede, wir verwenden „trans“ neuerdings als Adjektiv, die Buchstabensuppe – LGBTIQA – wird immer länger, und wenn man einen Buchstaben auslässt, muss man sich sofort die Frage gefallen lassen, warum man gerade dieser einen Gruppe keine Repräsentation zugesteht.

Vielfalt: Gesicht mit Regenbogen-Kopfschmuck, entstanden auf der Regenbogenparade 2010
Wir alle verdienen ein selbstbestimmtes Leben.

Ja, man kann fragen, ob das sein muss. Ja, manchmal springen die Leute auf eine „falsche“ Formulierung an, manchmal fühlt sich eine Reaktion eher wie ein Beißreflex an. Das ist auch kein Wunder. Wenn ich mein Leben lang mit Silencing und Gaslighting kämpfe, wenn Leute abstreiten, dass das, was ich bin, überhaupt existiert, wenn meine physische Sicherheit dauernd in Gefahr ist, dann bin ich auch nicht mehr geneigt, gegenüber Privilegierteren viel Milde zu zeigen, selbst wenn sie sich bemühen. Es fällt mir auch schwer, als Privilegierterer dann nicht vor den Kopf gestoßen zu reagieren, und ich habe den Fehler schon sehr oft gemacht, aber da muss ich in der Situation drüber stehen. Das steht einfach in keinem Verhältnis. Wir haben alle unsere Geschichte, unsere roten Knöpfe und unsere Vorurteile. Das ist in Ordnung. Es ist nur unerlässlich, dass wir darüber reflektieren und dazulernen.

Mit den Privilegien ist es nämlich so: Die sind relativ. Nur weil ich auf eine bestimmte Art benachteiligt bin, heißt das nicht, dass ich anderswo und gegenüber anderen nicht trotzdem privilegiert bin. Benachteiligung ist nie nur ökonomisch oder nur sexistisch oder nur religiös. Auch wenn es mir gelingt, die Auswirkungen einer bestimmten Benachteiligung – etwa meiner Körperbehinderung – durch Glück oder besonderen Fleiß abzufedern, bleiben die strukturellen Grundlagen und das damit verbundene Risiko Teil meiner Lebensrealität.

Die Klimabewegung weiß das, und deswegen tritt sie auch in diesen Fragen für Solidarität und Miteinander ein.

Mir scheint, viele Leute missverstehen grundsätzlich, was Solidarität eigentlich bedeutet. Solidarität ist nicht Toleranz, auch nicht Charity. Solidarität ist nicht etwas, das man den Anderen angedeihen lässt und sich dabei selber aussucht, wem und in welchem Ausmaß. Solidarität ist im Kern eigentlich ein durchaus egoistisches Konzept: Die Erkenntnis, dass es den eigenen Interessen dient, wenn man diese auch in Situationen vertritt, in denen man nicht unmittelbar selbst betroffen ist. Die Motivation zu solidarischem Handeln ist also nicht Goodwill oder Altruismus, sondern – in marktwirtschaftlichen Begriffen ausgedrückt –eine Investition in Erwartung einer Umwegrentabilität.

Bei der Bewältigung der Klimakrise hätten wir hier übrigens einen entscheidenden Vorteil: Der „Außenfeind“, das sind hier nicht andere Menschen. Die Bedrohung ist für uns alle gleich, niemand ist langfristig sicher. Wir hätten also allen Grund, uns zusammen zu finden und an einem Strang zu ziehen.

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One thought on “Wie hast du’s mit der Solidarität?”

  1. … leider endet der Artikel gerade dort, wo er spannend wird.
    Ich erbete dringend eine Fortsetzung/Artikelreihe!

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