134 Kilo Mensch.
Heute konnte ich wieder einmal nur die Hälfte meines Früstücks essen.
Meine Diätologin wäre vielleicht jetzt enttäuscht, weil ich die Portionsgröße immer noch nicht richtig schätzen kann, aber darum geht es jetzt nicht. Die Frage ist, wie ich damit umgehe.
Ihr erinnert euch, die Krankheit, mit der ich kämpfe, ist im Grunde eine Esssucht. Die spielt immer mit, beim Einkaufen, beim Kochen, beim Anrichten. Irgendwann entwickle ich vielleicht Gewohnheiten, die mir da entgegenkommen, aber derzeit bin ich noch längst nicht so weit. Da kann auch die OP nicht helfen.
Der Knackpunkt kommt dann beim Essen. Das Volumen meines Magens ist begrenzt, aktuell ungefähr ein Viertelliter. Das ist die Obergrenze, mehr geht nicht. Idealerweise fülle ich das nicht ganz aus, damit er nicht unter Spannung steht und sich nicht zu schnell dehnt. Irgendwann nächstes Jahr wird er wieder die Größe eines normalen Magens erreicht haben, und das muss auch so sein. Auch mein Gewicht muss sich irgendwann einpendeln, ich kann nicht ewig abnehmen, sonst würde ich ja verhungern. Ideal ist ein Zeitraum von etwa zwei Jahren zum Abnehmen.
Dieser Viertelliter steht mir natürlich nicht nur für Essen zur Verfügung. Auch Flüssigkeit beansprucht Platz im Magen, und bei diesen Temperaturen ist es gar nicht so einfach, genug davon in mich hinein zu bringen. Trinken hat immer Priorität, das muss ich beim Essen auch berücksichtigen.
Der Sucht ist das natürlich egal. Die Sucht will essen, sonst nichts, und das dauernd. Was jetzt anders ist als früher, ist, dass ich an einem Punkt spüre, dass der Magen voll ist. Wenn ich an diesem Punkt die Sucht gewinnen lasse, geht es mir schlecht. Im Extremfall steckt der letzte Bissen in der Speiseröhre, und das ist erstaunlich schmerzhaft. Oder der Magen rebelliert schon vorher und schickt mir etwa die Hälfte seines Inhaltes postwendend zurück. Das ist nicht nur in dem Moment unangenehm. Wenn mir das im Büro passiert, merke ich, dass ich für den ganzen Rest des Tages deutlich weniger leisten kann. Ich gehe damit sehr offen um und habe einen verständnisvollen Chef, daher kann ich mir das auch leisten. Ich weiß natürlich, dass das nicht selbstverständlich ist.
Zum Glück werden solche Episoden immer seltener. Viel häufiger gelingt es mir, wie eben auch heute, den richtigen Punkt zum Aufhören zu spüren und dann das restliche Essen auch wirklich wegzulegen, am besten gleich in den Kühlschrank oder jedenfalls die Küche. Aus den Augen, aus dem Sinn. Jede Nahrung, die in Griffweite bleibt, ist eine Gefahr. Ich kann mich dann vielleich 10 Minuten zurückhalten, manchmal auch 20, aber irgendwann greife ich zum nächsten Bissen. Und dann zum nächsten. Und zum nächsten. Bis alles weg ist.
Patient_innen, die sich auf eine solche OP einlassen wollen, werden auch mehrfach vorgewarnt. Meine aktuelle Situation ist fast das beste denkbare Szenario. Vielen gelingt es nicht, ihre Sucht so in Schach zu halten, und die sind dann wirklich bemitleidenswert. Einerseits quält sie die Sucht, andererseits geht es ihnen körperlich schlecht. Dazu kommt das Gefühl des Scheiterns, das bei schwer Adipösen fast immer mit einem an sich schon miserablen Selbstwert zusammenkommt. Und den einzigen Trost, den sie haben, das Essen, hat man ihnen auch noch weggenommen. Ich will mir gar nicht ausmalen, in welcher Situation ich jetzt stecken könnte.
Also, wenn euch jemand sagt, eine bariatrische OP ist der leichte Ausweg, glaubt dieser Person kein Wort. Jeder Tag ist ein harter Kampf. Das beste, das ihr euch erhoffen könnt, ist, dass ihr viele dieser Kämpfe gewinnt, und dass das Gewinnen irgendwann zur Gewohnheit wird. Garantie gibt es dafür aber keine. Wenn ihr vor so einer OP steht, holt euch jede Hilfe, die ihr kriegen könnt! Ich sehe meine Therapeutin aktuell nur mehr alle zwei bis drei Wochen, aber ganz ohne ihre Begleitung könnte ich noch nicht auskommen. Familie, Freun_innen, Kolleg_innen… Jedes kleine bisschen Unterstützung hilft.
Was auch wichtig ist: Es ist verdammt einfach, die Erfolge klein zu reden. Ich messe in unregelmäßigen Abständen meinen Bauchumfang, und der hat sich von 160 auf 130 Zentimeter verringert. Das hat (für mich) dramatische Auswirkungen. Bisher musste ich fast alle meine Kleidung beim Schneider machen lassen. Hosen konnte ich nur mit Hosenträgern oben halten. Letzte Woche habe ich eine alte, im Geschäft gekaufte Hose aus dem Kasten geholt und mit einem Gürtel angezogen. Wie so ein normaler Mensch. Ich weiß, es klingt absurd, aber das gibt mir Welten. Ich habe aus der Zeit, in der ich zugenommen habe, sehr viel Gewand aufgehoben. Daher kann ich noch in etwa 20 Kilo abnehmen, bevor ich beginnen muss, neue Sachen zu kaufen. Ich möchte das auch erst machen, wenn das Gewicht halbweg stabil ist. Trotzdem, ein bisschen freue ich mich schon drauf.