Das Werkstück

So, jetzt bin ich also operiert. Aber ich greife vor.

Sonntag, pünktlich um 9 Uhr, war ich auf der Station 21B, Allgemeine Chirurgie im Wiener AKH gestellt. Ich nahm die übliche Pose des hilflos Umherirrenden ein und wurde bald von einer Schwester in mein Zimmer geführt. Continue reading “Das Werkstück”

Leberfasten

172 Kilo Mensch.

30. Jänner 2019 — Ich soll also bis zum 4. März, das sind nicht mehr ganz fünf Wochen, mindestens fünf Kilo abnehmen. Kein Problem, das schaffe ich in einer Woche, wenn ich es nachher gleich wieder zunehmen darf. Nein, wirklich, abnehmen ist überhaupt kein Problem. *Längerfristig* abnehmen, das ist etwas ganz Anderes.

Es gibt da nur eine kleine Komplikation. Bei dieser Diät steht nicht der Gewichtsverlust im Vordergrund, sondern die Leber. Eine bariatrische OP, so heißt eine Operation zur Gewichtsreduktion im Fachjargon, wird nämlich laparoskopisch gemacht, also mit langen, dünnen Instrumenten durch wenige kleine Schnitte in der Gegend des Nabels. Eine deutlich vergrößerte Fettleber ist dabei im Weg, und das erschwert nicht nur dem Chirurgen die Arbeit, sondern verlängert auch die Operation, und damit steigt das Risiko. Die Arbeit an einem Ausnahmekörper wie meinem ist im besten Fall schon eine Herausforderung für jede Ärztin und jeden Arzt, weil das Herz und andere Organe unter besonderer Last stehen. Jede vermeidbare zusätzliche Belastung ist da unerwünscht, auch aus meiner ganz eigenen Perspektive.

Leider hatte ich es verabsäumt, mich genau zu erkundigen, wie das mit dem Leberfasten funktioniert. Nicht einmal das Wort kannte ich, sonst hätte ich es leicht googeln können. Im Prinzip geht es um folgendes: Wenn der Körper (fast) keine Kohlenhydrate zugeführt bekommt, schaltet die Leber sozusagen in den Panikmodus, die sogenannte Ketose. In diesem Zustand erzeugt sie Ketone, eine chemische Gruppe, dem zum Beispiel das Lösungsmittel Aceton angehört. Diese dienen dem Gehirn, den Muskeln und den Organen des Körpers als Energie-Notversorgung. Als Rohstoff verwendet die Leber dabei das körpereigene Fett, insbesonders das in ihr selbst eingelagerte, sowie mit der Nahrung zugeführtes Fett und Eiweiß. Letzteres ist besonders wichtig, da es auch als Baustoff vor allem für die Muskeln gebraucht wird.

Eine Ketose ist unter Normalbedingungen ein unerwünschter Zustand im Körper, da er auch Risken birgt. Es gibt aber auch medizinische Gründe, eine solche herbei zu führen, und die Vorbereitung auf eine Adipositas-OP ist einer davon.

Blöd nur: Ich hatte keine Ahnung, wie das geht. Ich wusste, dass man in einer Phase weitgehend von Proteinshakes lebt, und dass eine erhöhte Proteinzufuhr ein Eckstein der Methode ist, aber mehr?

Das war der Moment, in dem ich zum ersten Mal auf ein Phänomen gestoßen bin, das mich seither verfolgt. Man findet im Web jede Menge Kliniken, die Informationen zu Operationsmethoden geben, und zwar jeweils zwei bis drei Absätze, nicht mehr. Darüber hinaus wird die Luft leider sehr schnell dünn.

Youtube hat übrigens auch einige Videos von Magenbypass-Operationen. Da ich aber nicht vorhabe, mich selbst zu operieren, helfen mir die auch nur begrenzt weiter.

Dann wären da noch die Unterlagen aus der diätologischen Schulung. Darin finde ich durchaus einige wichtige Informationen – für die Zeit *nach* der OP. In erster Linie geht es darum, welche Nahrungsergänzungsmittel ich nehmen soll. Mir wird nicht nur der Magen verkleinert, sondern auch der Dünndarm stark verkürzt. Das führt dazu, dass ich vor allem Vitamine und Mineralien nur mehr unzureichend aufnehme, und das muss kompensiert werden. Dazu reichen nicht die klassischen Brausetabletten aus dem Supermarkt, vielmehr gibt es spezielle Präparate, die auf die Situation zugeschnitten sind und übrigens nicht von der Krankenkasse bezahlt werden. (Wer sich das nicht leisten kann, der oder dem wird sogar von der OP abgeraten.)

Aber vor der OP? Da war guter Rat teuer. Ich sollte ja sofort mit der Diät anfangen, eigentlich schon vorgestern. Mein erste Weg führte mich also in einen Supermarkt zum Regal mit den Proteinshakes, die als Lifestyleprodukte ja in großer Auswahl verkauft werden. Ich suchte mir das Produkt mit dem geringsten Zuckergehalt aus und besorgte mir dazu die schon erwähnten Vitamin-Brausetabletten. Im Web bestellte ich Nestlé Resource Protein Pulver und die Shakes der gleichen Marke. Letztere schmecken fürchterlich und enthalten auch reichlich Zucker, also habe ich sie relativ bald aufgegeben. Mit dem Pulver begann ich, ein wenig zu experimentieren.

Man kann es zum Beispiel in Joghurt einrühren und mit Süßstoff und künstlichen Aromastoffen bekommt man in etwa Geschmack und Konsistenz von Fruchtzwergen. Ich aß “viel” Gurken, Cherrytomaten, Paprika, Frischkäse, Käse überhaupt, oder ich rührte das Eiweiß in Sugo ein und überbuk damit und mit etwas Käse einen Zucchini.

Völlig verzichtet habe ich auf alle Kohlenhydratträger, nicht nur auf Erdäpfel, Nudeln, Brot und natürlich sowohl Alkohol als auch Zucker in jeder Form, sondern sogar auf stärkehaltiges Gemüse wie Karotten. Auf Wikipedia fand ich die Zahl von 50g als Obergrenze für die Kohlenhydratmenge pro Tag, im ketoforum, einer Community von Leuten, die nicht unbedingt aus medizinischen Gründen eine ketogene Diät halten, eine Reihe von Rezeptideen. Daran habe ich mich auch möglichst gehalten, auch wenn mir das nicht jeden Tag gelungen ist.

Warum weiß ich das überhaupt? Zur Aufzeichnung habe ich – wieder einmal – ein Monatsabo bei kilocoach.at genommen. Es fällt mir ausnehmend schwer, ein Nahrungsprotokoll zu führen, weil ich das in meinem Leben schon so oft erfolglos versucht habe, aber für ein paar Wochen erwies es sich als möglich. Kilocoach ist zwar nicht billig – für das eine Monat zahle ich 17 Euro 90 –, hat aber dafür eine recht umfangreiche österreichische Produktdatenbank. Man kann fehlende Produkte mit allen Nährwerten auch relativ einfach nacherfassen und bekommt eine übersichtliche Tagesauswertung nach Kalorien und einzelnen Nährwerten. Damit habe ich relativ schnell gelernt, wo wenige oder keine Kohlenhydrate drin sind.

Ich passte auf, dass ich bei etwa 1300 Kalorien pro Tag blieb, aber es gab auch Tage, da hatte ich 1700 (mehr allerdings nie) oder nur 900. In den ersten drei Wochen hatte ich so zehn Kilo abgenommen, die Woche darauf hatte ich den ersten echten Rückschlag. Aus irgend einem Grund habe ich innerhalb von zwei Tagen 1,3kg zugenommen, die waren aber rasch wieder weg.

Inzwischen weiß ich mehr. Meine Firma bietet Betreuung von einer Ernährungsberaterin an, die habe ich in Anspruch genommen. Die Quintessenz ist, dass ich mit dem, was ich gemacht habe, gar nicht so schlecht gelegen bin. Es gibt spezielle Shakes, und am Anfang soll man drei Shakes am Tag trinken und etwas Gemüse essen. Das Konzept ist hier erklärt, da gibt es auch ein Buch und das Präparat zu kaufen. Mit meinem Eiweißpulver, ergänzt mit Vitamintabletten, komme ich auf eine ganz ähnliche Zusammensetzung. Wichtig ist auch, dass man die ersten zwei Wochen relativ radikal einsteigt, das habe ich auch intuitiv richtig gemacht.

Leicht ist das übrigens nicht. Dass ich es trotzdem schaffe, liegt unter Anderem daran, dass ich eine sehr konkretes Ziel zu einem sehr konkreten Datum vor Augen habe. Meine Essucht nagt jeden Tag an mir, und am liebsten würde ich immer wieder alles hinwerfen. Manche äußeren Reize sind das Schlimmste: der Geruch von frischem Brot, Bananen, die im Supermarkt gleich neben meinen Gurken liegen, solche Sachen eben. Mein Arbeitsplatz im Büro liegt gleich hinter der Kantine, was um die Mittagszeit auch kaum auszuhalten ist. Dagegen hilft übrigens ein einfacher Trick: Starke Gerüche und Geschmäcker, die das Gehirn stärker beschäftigen als der Duft des Essens. Ich schmiere mir die Nase einfach jeden Tag mit Wick Vapo Rub ein, aber es funktionieren auch Kaffeebohnen, die man kaut, getrocknete Chilis oder hochwertige Duftöle aus der Apotheke.

Disclaimer: Ich bin kein Mediziner und berichte nur von meinen eigenen Erfahrungen. Jede radikale Gewichtsreduktion sollte nur unter ärztlicher Aufsicht erfolgen.

Ich nenne hier ausnahmsweise konkrete Produkte, weil das eine Information war, nach der ich erfolglos im Web gesucht hatte. Vielleicht hilft das ja jemandem Anderen weiter. Die Nennung ist nicht als Werbung zu verstehen. Ich stehe in keinerlei Verhältnis zu Produzenten oder Händlern.

Was bisher geschah – Teil 2

10. Jänner 2019

Nach einer längeren Weihnachtspause geht es weiter mit dem Untersuchungsmarathon. Heute zum Bauchultraschall. Der Zustand der Bauchorgane ist natürlich ein ganz wesentliches Kriterium dafür, ob und wie ich operiert werden kann. Im Vordergrund stehen dabei weniger Magen und Darm als die Leber, die sich bei mir zum Glück als nur geringgradig verfettet darstellt. (Einen Körperteil oder ein Organ ganz ohne Fett gibt es in meinem Körper natürlich nicht.) Der Arzt stößt bei seiner Diagnose allerdings insofern an eine Grenze, als das Fett in der Bauchhöhle einen klaren Blick auf einige Organe verunmöglicht.

15. Jänner 2019

Privat bei der Diätologin. Ich habe das Glück, dass in der Rudolfstiftung, also gleich bei mir ums Eck, eine namhafte Ernährungsberaterin arbeitet, die auch Fortbildungen für ihre Kolleg_innen durchführt und sogar ein Buch über die Ernährung nach einer Adipositas-OP mitverfasst hat. Ihre Praxis liegt auch im dritten Bezirk. Also drei gute Gründe, zu Birgit Lötsch zu gehen.

Das Gespräch ist wieder sehr angenehm und endete mit der Einsicht: “Sie verdienen eine OP.” Ich bin unsicher, ob ich nach diesem Kriterium beurteilt werden möchte, aber es tut irgendwie auch gut zu hören, dass mein Zustand nicht die Folge von Disziplinlosigkeit oder einfach nur blanker Gier ist, sondern dass ich lange gekämpft habe, mehr und hartnäckiger als Andere. Das Gutachten bekomme ich in den nächsten Tagen per Post.

Ich soll vor der OP mindestens fünf Kilo abnehmen und zwar möglichst ohne Kohlenhydrate. Dass ich verabsäume, zu fragen, wie das genau geht, sollte sich als Fehler erweisen. Mehr dazu in einem anderen Beitrag.

16. Jänner 2019

Termin bei der Internistin im AKH. Ich lege alle Befunde vor, die ich schon habe. Alles, was im Haus gemacht wurde, einschließlich der Laborwerte liegt ihr ohnehin vor. Sie entscheidet, dass sie mich noch auf koronare Herzkrankheit untersuchen lassen will. In meiner Familie gibt es dazu eine Vorgeschichte, und natürlich gehöre ich zur Hochrisikogruppe. Sie ordnet eine nuklearmedizinische Untersuchung an; ich lerne ein neues Wort: “Myokard-Szintigraphie”. Dabei wird mir ein radioaktives Mittel gespritzt und mein Oberkörper von allen Seiten mit speziellen Kameras abgelichtet. Es gibt nur ein Problem: Die Kameras fahren einmal um den Körper herum, und die Ärztin ist nicht sicher, ob der Platz dazwischen für meine Panoramafigur reicht. Ich werde daher zum “Probeliegen” geschickt. Es geht sich knapp aus, und ein Termin am 25. Februar wird vereinbart.

17. Jänner 2019

Brav, wie ich bin, habe ich alle Befunde gesammelt und hätte jetzt gerne einen Termin zur Befundbesprechung. Mir wird der 12. März angeboten, in zwei Monaten. Die Zeit, die ich durch private Termine und den “neuen Prozess” eingespart habe, soll ich jetzt also wieder liegen lassen, weil die Krankenhausbürokratie mich de facto dafür bestraft, dass ich mich an die Regeln halte? Geht gar nicht.

22. Jänner 2019

In meiner Not rufe ich die Assistentin, die für mich im November die Termine vereinbart hatte, an und bitte um Hilfe. Sie rät mir, einfach ohne Termin zur Befundbesprechung zu gehen.

29. Jänner 2019

Adipositas-Ambulanztag im AKH. Ich stelle mich auf Diskussionen mit der Leitstelle und lange Wartezeiten ein, aber tatsächlich bekomme ich nicht einmal Widerspruch und werde schon nach einer guten halben Stunde zum Arzt vorgelassen. Es wird entschieden, dass für mich nur eine Operation in Frage kommt, und zwar ein neues, kompliziertes Verfahren, das, wie ich zu hören bekomme, “bei uns nur der Chef macht”. Aber davon später. Einen OP-Termin bekomme ich auch gleich, den 4. März. Ich frage den Arzt, wie das mit dem Fasten bis dahin genau funktioniert, aber der verweist mich nur an die Diätologin zurück. Zum Abschied bekomme ich einen Brief an den Chefärztlichen Dienst der Wiener Gebietskrankenkasse, von dem ich eine Genehmigung für die OP brauche, und eine Liste von weiteren Untersuchungen.

4. Februar 2019

Ich mache mich auf ins Kundencenter Gasometer der WGKK, um meinen Antrag auf Kostenübernahme persönlich abzugeben. Nach etwa einer Dreiviertelstunde Wartezeit erhalte ich Gelegenheit, den Brief vom AKH der Dame am Schalter vorzulegen. “Was soll ich damit?” Ich erkläre, dass ich eine Genehmigung für eine OP brauche, aber da war ich zu optimistisch, das geht nur in der Zentrale am Wienerberg.

Dort geht alles recht schnell, ich werde eingelassen und bin 10 Minuten später schon wieder draußen. Die Genehmigung kommt per Post.

25. Februar 2019

Nachdem ich letzte Woche die üblichen OP-Vorbereitungen über mich ergehen lassen habe – noch einmal Blutabnehmen, Lungenrötgen – wartet heute ein besonderer Leckerbissen auf mich: die Myokard-Szintigraphie. Die Internistin fand, dass mein Herz eine genauere Überprüfung brauchen kann, auf Herz und Nieren sozusagen. Ich finde mich also pünktlich um 9 Uhr 30 “absolut nüchtern” in der nuklearmedizinischen Ambulanz im AKH ein und soll gleich einmal ein Butterbrot verzehren. Auf meinen Hinweis, dass ich faste, bekomme ich einen Becher Wasser in die Hand gedrückt. Ich solle mir doch bitte am WC noch mehr Wasser holen und das trinken.

Wir finden uns an dieser Stelle mit einem Phänomen konfrontiert, das im AKH der gängige Modus Operandi zu sein scheint. Es wird ein umfangreicher elektronischer Akt geführt, in den aber niemand jemals auch nur einen Blick zu werfen scheint. So finde ich mich als Patient immer wieder in der Situation, ganz von vorne zu erzählen, was mir fehlt. Welche Medikamente nehmen Sie? Haben Sie Allergien? Oh, Sie werden operiert? Heute sogar zweimal, weil im Verlauf der Untersuchung die Ärztin wechselt.

Die Untersuchung verläuft wenig spektakulär. Mir wird zweimal im Abstand von einigen Stunden ein radioaktives Mittel gespritzt, dann werde ich für 20 Minuten in eine Röhre geschoben, ein Ring Kameras saust um mich herum, und noch bevor ich schön braun und knusprig bin, ist alles auch schon wieder vorbei.

Der Befund geht direkt an den Zuweiser. Ich nehme an, das ist die Internistin im Haus, die mich genau einmal gesehen hat und sich nicht weiter für mich interessiert. Mit anderen Worten, der Befund verschwindet im ungelesenen Akt.

Im nächsten Beitrag erzähle ich von ein paar Dingen, von denen ich froh gewesen wäre, wenn ich sie schon vorher gewusst hätte.

Was bisher geschah – Teil 1

173 Kilo Mensch.

Die Geschichte einer Magenverkleinerung, egal welcher Art, beginnt nicht mit der Operation. O nein! Schon die Vorbereitung ist eine langwierige, aufwändige Sache. Aber alles der Reihe nach.

Mitte August 2018

Heute ist der große Tag! Endlich habe ich es geschafft und mich überwunden. Ich werde wieder ins AKH gehen und mich informieren, welche Optionen es für mich gibt, und wenn das die einzige ist, werde ich mir den Magen verkleinern lassen. Jetzt einmal in der Ambulanz anrufen und nach einem Termin fragen.

30. Oktober 2018

Heute ist der große Tag! Endlich kann ich im AKH, Leitstelle 7C, vorsprechen. Nach einer recht kurzen Wartezeit, weniger als eine Stunde, werde ich abgewogen (172 Kilo), gemessen (1,72 groß, 1,61 Bauchumfang) und dann zum Arzt vorgelassen. Der teilt mir mit, dass ich ungewöhnlich dick bin (“So etwas haben selbst wir selten.” No shit, Sherlock.) und vertröstet mich dann einmal für zwei Wochen. Man habe da einen neuen Prozess, und den wolle man mir angedeihen lassen. Der sei aber erst in zwei Wochen fertig, ich möge dann wieder kommen.

13. November 2018

Heute ist der große Tag! Die Leitstelle ist zwar sauer auf mich, weil ein Arzt direkt einen Termin vergeben hat, aber ich werde trotzdem dran genommen. Der Arzt redet mir ins Gewissen, dass ich abnehmen soll (“Super Idee! Warum bin ich da nicht selbst draufgekommen?”) und dass sie mir dabei helfen können. Auch bei einer OP gebe es keine Garantie, aber bei mir sei er sich ziemlich sicher, dass “die Vorteile die Nachteile überwiegen” werden. Das ist zwar überschaubar charmant, aber mir ist es eindeutig lieber, wenn mir klar gesagt wird, was ich zu erwarten habe. Der “neue Prozess” besteht darin, dass ich eine Liste von Untersuchungen bekomme, die ich über mich ergehen lassen muss. Davon später mehr. Ich hoffe, bis Weihnachten alles über die Bühne zu bringen. (Wie jung und naiv ich doch war!) Die Liste wird mir aber nicht einfach nur in die Hand gedrückt. Ein Assistent nimmt mir Blut ab und reicht mich dann an eine Kollegin weiter, die sich hinsetzt, zum Telefon greift und für mich Termine ausmacht. Leider ist es gerade so ca. halb eins, und nicht überall hebt jemand ab. Aber immerhin, ein paar Termine habe ich jetzt schon vereinbart, der letzte im Jänner. (Wird wohl nix mit Weihnachten.) Ein Termin wäre sogar erst im März, aber da werde ich privat woanders hin gehen.

“Wenn Sie alles beisammen haben, melden Sie sich wieder, und wir machen einen Termin zur Befundbesprechung. Aber wirklich erst, wenn Sie alles beisammen haben, wir haben immer wieder Patienten, die vorher kommen, und wir müssen sie wieder wegschicken.” Spoiler: Es ist ein Fehler, wirklich zu warten, bis man alles beisammen hat. Für den ersten Termin, eine weitere Blutabnahme zwei Tage später, bekomme ich eine Tablette mit, die ich am nächsten Abend nehmen soll.

28. November 2018

Neben den medizinischen Untersuchungen brauche ich auch ein diätologisches und ein psychologisches Gutachten. Damals, 2012, erwies sich die Psychologin als das größte Hindernis. Die 190 Euro für das Gutachten musste ich übrigens privat bezahlen, das bekommt man nicht von der Krankenkasse. Dieses Mal besteht mein Termin aus einem einstündigen durchaus angenehmen Gespräch, das Gutachten bekomme ich einige Tage später per E-Mail.

5. Dezember 2018

Vor der Gastroskopie habe ich ziemliche Angst. Ich hatte schon zweimal eine, und beide waren die pure Folter. Zu meiner Erleichterung werde ich gefragt, ob ich sediert werden wolle. Ich bejahe und finde mich wenige Augenblicke später in einem Aufwachraum wieder. Protipp: Nach einer Kurznarkose nicht arbeiten gehen!

11. Dezember 2018

Diätologische Gruppenschulung. Es geht eigentlich nur um Operationsmethoden und Nahrungsergänzungsmittel nach einem Magenbypass. Man muss täglich Tabletten schlucken, die übrigens die Krankenkasse nicht bezahlt. Manche Leute im Raum protestieren, dass sie sich die Kosten, immerhin 70 Euro im Monat, nicht leisten können. Die Vortragende empfiehlt ihnen, sich doch noch einmal zu überlegen, ob die OP unter diesen Umständen das Richtige für sie ist. Ich finde das skandalös, weniger die Empfehlung als, dass hier arme Menschen wieder einmal systematisch diskriminiert werden.

Für viele der Anwesenden ist das ganz offensichtlich die erste Gelegenheit, Fragen zu stellen. So kommt es, dass ich zwar viel über die Lebensgeschichten diverser Verwandter der übrigens fast ausschließlich weiblichen Teilnehmenden lerne, aber wenig über Ernährung. Ist aber auch spannend. Es gibt Leute, denen es noch viel schlechter geht als mir. Welche Informationen ich noch gebraucht hätte, wird mir erst später bewusst, aber davon erzähle ich in einem anderen Beitrag.

17. Dezember 2018

So einen Tag will ich nie wieder erleben! Zu nachtschlafener Zeit (7 Uhr 30) muss ich nüchtern im AKH gestellt sein und bekomme ein ca. 4 Millimeter starkes Kabel durch die Nase und die Speiseröhre in den Magen geschoben. “Manometrie” nennen sie das. Ich bekomme dann schluckweise Wasser eingeflößt, und bei jedem Schluck zieht die ebenso freundliche wie gnadenlose Frau, die mich behandelt, das Kabel ein Stück heraus.

Aber das war nur der Auftakt. Im Anschluss bekomme ich ein zweites, etwas dünneres Kabel wieder durch die Nase bis fast in den Magen. Es wird an ein Messgerät angeschlossen, das ich umgehängt bekomme. Diese Konstruktion muss ich jetzt 24 Stunden tragen. Dabei darf ich mich bis zum Abend nicht hinlegen und muss über alles, was ich esse und trinke, Protokoll führen. In der Nacht muss ich auch mitschreiben, wann ich mich hinlege, und wann ich aufstehe.

Das Gerät misst 24 Stunden lang den pH-Wert in meiner Speiseröhre. Das Ergebnis wird sich später als eine wesentliche Entscheidungsgrundlage für die Operation herausstellen, also war es das wohl immerhin wert.

Wie schnell kann man eigentlich 100 Kilo abnehmen?

177 Kilo Mensch.

Das war der höchste Wert, den ich je auf einer Waage gesehen habe. Nein, das passiert nicht von heute auf morgen. Nein, niemand lebt freiwillig so. Esssucht ist eine Suchtkrankheit wie jede andere, und ich werde keine Zeit mehr darauf verschwenden, mich dafür zu entschuldigen oder zu rechtfertigen.

Ich wollte schon lange nicht mehr so weiterleben, und eine Zeit lang war ich auch unsicher, ob ich überhaupt noch leben wollte. Bloß, was ist Plan B? Mit einer Diät ein paar Kilo abnehmen geht immer, aber angesichts eines Fettberges von 100 Kilo oder mehr schmilzt jede Hoffnung wie ein Schneeball in der Sonne, und zwar schon, bevor ich nur einen einzigen Tag gefastet habe. Und dann ist da noch die Sucht, die nicht einfach so weg geht, nur weil ich mir das vornehme.

Im Prinzip gibt es nur eine einzige Möglichkeit, einer Suchtkrankheit dauerhaft zu entkommen: Kalter Entzug. Die Patientin oder der Patient vermeidet möglichst jede Konfrontation mit dem Suchtmittel und nimmt es schon gar nicht zu sich. Bei einer Esssucht ist das leider keine Option. Ein Mensch muss essen, jeden Tag, mehrmals, da führt kein Weg daran vorbei.

Eigentlich bewege ich mich ja gerne. Wann immer es das Wetter zulässt, ist für mich mein Fahrrad das Verkehrsmittel der Wahl, und ich gehe auch ganz gerne zu Fuß, wenn das nicht Schmerzen in meinen Gelenken zur Qual werden lassen. Allerdings nahm meine Reichweite mit steigendem Gewicht immer mehr ab, zuletzt ging mir schon nach wenigen hundert Metern die Luft aus. Ans Stiegensteigen war auch nicht mehr zu denken.

Medikamente? Natürlich gibt es Schlankheitspillen auf dem Markt. Jede Menge sogar. Fettblocker, Ballaststoffe, die sich im Magen ausdehnen, viele andere Angebote. Nicht wenige davon habe ich ausprobiert. Genützt hat keine etwas, schon gar nicht längerfristig.

2011 war ich ein paar Wochen auf Reha. Die gibt es nicht nur nach Skiunfällen und Herzinfarkten, sondern auch für Adipositas. Drei Wochen Sonderkrankenanstalt Alland. Ich hätte mir davon viel versprochen, vor allem wollte ich Möglichkeiten kennen lernen, wie ich mich trotz meiner starken körperlichen Einschränkungen bewegen kann. Der Aufenthalt war ernüchternd. Wir wurden auf eine relativ strenge Diät gesetzt, erst 1100 und später 1300 Kalorien, und das Bewegungsangebot bestand im Wesentlichen aus Wandern und Ergometertraining. Die 10 Kilo, die ich in den drei Wochen abgenommen habe, hatte ich in zwei Jahren wieder zurück, mit Verstärkung.

In Alland wurde mir auch schon klipp und klar gesagt, dass ich nicht darauf hoffen soll, jemals auf konventionellem Weg noch einen gesundheitsverträglichen Körperumfang zu erreichen. Ich solle doch operieren gehen. Ich war dann auch im AKH, um mich zu informieren. Ich bekam eine lange Liste von Aufgaben, die ich abzuarbeiten hätte, Untersuchungen, Gutachten usw. Ich wusste eigentlich sofort, dass ich das nicht schaffen würde, ließ mich aber doch auf den Prozess ein. Als ich aber bemerkte, dass meine Aufganbenliste statt kürzer immer länger wurde, weil ich überall noch mehr Untersuchungen und Therapien aufgetragen bekam, die ich vor einer Operation doch absolvieren solle, gab ich irgendwann frustriert und verzweifelt auf.

Es brauchte einige Jahre Arbeit mit einer wunderbaren Therapeutin, um mich so weit aufzubauen, dass ich einen weiteren Anlauf wagen wollte. Letzten Oktober war es so weit. Seit damals war ich wieder am Befunde Sammeln, Ambulanzen und Privatordinationen Aufsuchen, Optionen Abklären, und auch dieses Mal wurde die Liste erst länger, dann aber doch irgendwann kürzer, und vor ein paar Wochen hatte ich alles beisammen, was ich brauche. Zurück in der Adipositasambulanz im AKH fiel die Entscheidung, dass eine Operation wirklich der einzige Ausweg für mich ist.

Am 4. März ist also der große Tag, nach dem mein Leben nie wieder so sein wird wie zuvor. Wenn es mir gelingt, werde ich versuchen, euch auf die Reise mitzunehmen und hier ein wenig zu erzählen, wie es mir so damit geht.

Nein, es geht nicht

Sisyphos muss man sich vielleicht als glücklichen Menschen vorstellen. Peter Kolba wohl eher weniger.

So schön hatte es am Anfang geklungen. “Die Personen sind das Programm.” Übersetzt: Eine Gruppe von Leuten findet sich zusammen, um aus der (teilweise selbst mitverschuldeten) Konkursmasse der Grünen ein paar Stimmen für ihre jeweilige private Agenda einzusammeln. Wer konnte da schon widerstehen? Ein ehrbares Anliegen (oder zwei: Im Falle Kolbas Konsumentenschutz, insbesondere Sammelklagen, und die Freigabe von medizinischem Cannabis für Schmerzpatienten) nicht nur spendenfinanziert betreiben zu müssen, sondern gut vom Staat bezahlt und mit MitarbeiterInnen ausgestattet aus einem Abgeordnetensitz heraus, dazu mit allen parlamentarischen Mitteln, diesem Anliegen Gehör zu verschaffen, Anträge, Anfragen, Sondersitzungen, aktuelle Stunden…
Um die “große Politik” kümmern sich die anderen Parteien und die langjährigen Profis aus dem eigenen Klub: Pilz, Zinggl, Rossmann, Holzinger-Vogtenhuber. Was konnte da schon schief gehen?

Plötzlich ging alles schief. Peter Pilz, der Listengründer und logische Klubobmann wurde von seiner Vergangenheit eingeholt und nahm – vorläufig und nach einigem Zögern – sein Mandat im neu gewählten Nationalrat nicht an. Auf einmal war jedes einzelne Klubmitglied eine potenzielle Klubobfrau, ein potenzieller Klubobmann und damit exponierter, als man das jemals beabsichtigt hatte. Man hätte nun erwarten können, dass eineR der erfahrenen Abgeordneten in die vakante Rolle schlüpft. Diese scheinen aber entweder kein Interesse gezeigt zu haben oder nicht mehrheitsfähig gewesen zu sein.

Wie immer diese klubinterne Reise nach Jerusalem ausgespielt wurde, am Ende fand sich Peter Kolba im Sessel des Klubobmanns wieder und beweist seither fast täglich, dass er dieser Aufgabe nicht gewachsen ist. Im Parlament macht sich FPÖ-Klubchef Walter Rosenkranz regelmäßig einen Spaß daraus, dass Kolba, an sich schon kein begnadeter Redner und jetzt zwangsweise mit Themen befasst, zu denen er sich nicht besonders auskennt und sichtlich auch nicht sehr interessiert, auf den kleinsten Zwischenruf sofort anspringt. Kolba geht das sichtlich unter die Haut.

"Osterputz"?

Mit einer dicken Haut scheint Kolba überhaupt nicht gesegnet zu sein. Besonders mit kritischen JournalistInnen scheint der Aushilfsklubobmann seine liebe Not zu haben. Die Liste der Medien, von denen er sich ungerecht behandelt fühlt, und mit denen er nicht mehr redet, wird etwa im Monatsrhythmus länger. Das gilt auch für soziale Medien, insbesondere Twitter, wo dieser Tage offenbar schon ein Retweet von Falter-Chefredakteur Florian Klenk oder sehr, sehr harmlos vorgebrachte Kritik dazu führt, dass User geblockt werden.

Und schon geblockt.

Man kann niemandem vorwerfen, dass er eine dünne Haut hat. Man sollte aber so viel Selbstreflexion mitbringen und sich gelegentlich die Frage stellen, ob man mit einem dermaßen schwachen Nervenkostüm wirklich für die Spitzenpolitik geeignet ist. Kolba schadet damit nicht nur sich selbst, sondern natürlich auch dem Land, das gerade jetzt eine starke, kompetente, geordnete Opposition im Parlament bräuchte. Dafür ist die Liste Pilz angetreten, dafür wurden sie gewählt. Sie müssen zeigen, dass sie es können. Peter Kolba kann es nicht. Der Klub sollte ihn von seiner Qual erlösen, und zwar bald.

Ein einzelner gefavter Tweet reicht, und man wird geblockt.
#kolbablockt

 

Lasst sie uns an den Taten messen

Seit die ÖVP wenige Tage nach der Wahl Gespräche mit den Freiheitlichen zur Bildung einer Koalition aufgenommen hat, steht die neue Führungsriege der Republik im Kreuzfeuer der Kritik. Gründe dafür gibt es zweifellos genug, von der Personalauswahl der Verhandlungsteams, dem Umgang mit dem Parlament, bis hin zu zahlreichen Wortmeldungen handelnder Personen.
Bundeskanzler Sebastian Kurz’ rechte Hand, der neue Kanzleramtsminister Gernot Blümel, fühlte sich schon wenige Tage nach ihrer Bildung zwischen Weihnachten und Neujahr bemüßigt, uns zu bitten, die neue Bundesregierung doch an ihren Taten zu messen. Wo genau er in der Politik die Grenze zwischen Aussagen und Taten zieht, erklärt Blümel nicht. Egal. Nehmen wir ihn beim Wort.

Was sind also die Taten der neuen Bundesregierung? Welche Maßnahmen hat sie bisher gesetzt oder konkret angekündigt?

Frauen zurück an den Herd

Da wäre einmal der Stellenwert, den die neue Kompetenzverteilung der weiblichen Mehrheit der Bevölkerung einräumt. Statt in einem Ministerium sind die Frauenagenden nunmehr im Bundeskanzleramt angesiedelt, und zwar nicht direkt beim Bundeskanzler, sondern bei Ministerin Juliane Bogner-Strauß. Man mag jetzt kritisieren, dass das an sich eine Abwertung darstellt, aber viel problematischer ist die für Konservative typische Gleichsetzung von Frauen- und Familienpolitik. Der Platz der Frau ist zuerst in der Familie, daher ist Familienpolitik Frauenpolitik, und Frauenpolitik ist Familienpolitik. Konsequenterweise finden sich die Zuständigkeiten für beide Bereiche jetzt in einer Hand, wobei „Familie“ im Regierungsprogramm (Seite 9) als eines der „Prinzipien“ definiert wird:

„Die Familie als Gemeinschaft von Frau und Mann mit gemeinsamen Kindern ist die natürliche Keimzelle und Klammer für eine funktionierende Gesellschaft und garantiert zusammen mit der Solidarität der Generationen unsere Zukunftsfähigkeit. Für uns stehen vor allem die Kinder im Mittelpunkt – Familie soll ein Ort sein, wo sie behütet aufwachsen können und gut auf das Leben vorbereitet werden.“

Wie schlägt sich dieses Prinzip nun in konkreten Taten nieder? Eine der ersten Maßnahmen, welche die Koalition in die Wege geleitet hat, ist eine klassische Herdprämie, pardon, ein „Familienbonus“. Derartige Transferleistungen gehören zur Grundausstattung des konservativen politischen Inventars. Im Kern geht es darum, dass es attraktiver wird, wenn ein Elternteil – fast immer die Frau – daheim bleibt und sich um die Kinder kümmert. Der „Familienbonus“ erreicht das, indem er den bestehenden Absetzbetrag für Kinderbetreuungskosten ersetzt. Letzterer kann nur in Anspruch genommen werden, wenn auch tatsächlich Betreuungskosten außer Haus anfallen. Für den „Familienbonus“ gilt das nicht, die Familie profitiert also davon, wenn die Kinder gratis betreut werden. Die Auswirkungen ähnlicher Maßnahmen in anderen Ländern sind je nach Ausgestaltung unterschiedlich, der Verdrängungseffekt vom Arbeitsmarkt in den häuslichen Bereich ist aber jedenfalls messbar.

Die Politisierung der hohen Beamtenschaft

Schon bisher gab es im Außenministerium die Funktion eines Generalsekretärs. Ein prominenter Amtsinhaber etwa war der langjährige Spitzendiplomat Thomas Klestil, der aus diesem Amt heraus 1992 zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Die neue Regierung führt die Funktion jetzt in allen Ministerien ein. Die Generalsekretäre bedürfen, wenn sie selbst keinen Beamtenstatus haben, nicht der Bestätigung durch den Bundespräsidenten, sind aber dennoch gegenüber den Sektionschefs weisungsbefugt. Gemeinsam mit einer wieder steigenden Zahl an Mitarbeitern in den nur dem Minister persönlich verpflichteten Kabinetten stellen die Generalsekretäre einen weiteren Schritt in Richtung einer immer stärker politisierten Hoheitsverwaltung dar.

Der sozialpolitische Kahlschlag

Lassen wir einmal die Krankenkassen außen vor. Wir wollen die Regierung ja an den Taten messen, und in diesem Bereich sehe ich bisher nicht mehr als vage Vorschläge.
Wer in den nächsten Jahren die Arbeit verliert und nicht bald wieder eine findet, dem bläst allerdings verlässlich ein rauer Wind entgegen. Diese Maßnahme ist dem Bundeskanzler so wichtig, dass er sich dabei auf keinen Fall in die Parade fahren lassen will und sogar gleich am Anfang den offenen Konflikt in seinem Kabinett in Kauf nimmt. Die Sache fußt natürlich auf der arroganten Annahme, dass Menschen, die lange arbeitslos sind, einfach zu faul sind, sich eine Stelle zu suchen. Dieser klassische konservativ-neoliberal Spin ist von den Tatsachen weit entfernt.
Mit geht es dabei nicht um irgend einen diffusen Gerechtigkeitsbegriff. „Gerechtigkeit“ ist vielleicht das am meisten überstrapazierte Wort unserer Zeit. Im letzten Wahlkampf hat es wirklich jede und jeder im Mund geführt, und was die Parteien damit meinten, hätte unterschiedlicher nicht sein können. So ein Begriff ist keine geeignete Grundlage für politisches Handeln.
Die wachsende Soziale Ungleichheit darf aber auch den Gutsituierten unter uns nicht egal sein, schon aus Gründen des Selbstschutzes. Armut ist nicht die Ursache von Kriminalität, in dem Sinn, dass wer arm ist, etwa zum Verbrechen neige. Aber eine wachsende Ungleichheit geht systemisch oft mit einer steigenden Anzahl vor allem von Eigentumsdelikten einher. Sozialpolitik ist eben immer auch Sicherheitspolitik, und zwar die wesentlich effektivere als die, die im Augenblick auf uns zu kommt. Aber vielleicht ist das einigen ja auch ganz recht so.

Sobotkas Spitzelpaket

Es war die Aufregung des Sommers und fand, für derartige Themen sehr ungewöhnlich, sogar Eingang in den beginnenden Wahlkampf: ÖVP-Innenminister Wolfgang Sobotka wollte die anlasslose Überwachung der gesamten Bevölkerung und schreckte dabei vor tiefen Eingriffen in die Grundrechte ebenso wenig zurück wie vor technisch unpraktikablen Lösungen. Die FPÖ stand dem damals sehr kritisch gegenüber. Nach der Wahl will Neo-Innenminister Kickl nun genau dasselbe Paket so schnell wie möglich durchwinken. Natürlich hat sich an der Grundrechtswidrigkeit seither nichts geändert, und eine praktikable technische Umsetzung ist auch nicht über Nacht aufgetaucht. Die 180°-Wendung der FPÖ in diesem Punkt ist jedenfalls beachtlich. Und das ist vielleicht nur ein Vorgeschmack.

Die europapolitische Zündelei

Wie kommt man eigentlich auf die Idee, diese Regierung als pro-europäisch einzuordnen? Wir haben einen Bundeskanzler, der in seiner früheren Funktion auf der Europäischen Bühne vor allem durch Abwesenheit glänzte., der unsere wichtigsten Verbündeten, allen voran die Deutschen und Bundeskanzlerin Angela Merkel, seit Jahren mit seiner Politik vor den Kopf stößt.

Das ist an sich nichts Neues. Vorangegangene österreichische Regierungen verfolgten auf europäischer Ebene keine Herzensthemen, zeigten kein besonderes Engagement für irgendwelche Materien und erarbeiteten sich so auch nicht jenes politische Kapital, das für die Durchsetzung eigener Interessen in Brüssel unumgänglich ist. Eine Ausnahme gab es: Abschiebungen. „Österreich ist in keinem Bereich der EU so engagiert wie bei Frontex“, schrieb die deutsche Zeit schon 2010. Das österreichische Selbst- und Fremdbild klaffen in keiner Frage so weit auseinander wie in unserer Position zur Europäischen Union.

Neu ist, dass sich die Koalition jetzt offen von den großen Playern der Union ab- und den demokratisch teils zweifelhaften Regimen der Visegrad-Gruppe zuwendet. Und natürlich, dass mit der FPÖ jetzt ein Mitglied der rechts außen verorteten und die Europäische, wie eigentlich jede, Integration offen ablehnenden ENF-Fraktion der Regierung angehört, die, von staatstragendendem Geist nicht unbedingt erfüllt, das Zündeln nicht lassen kann.

Der umweltpolitische Offenbarungseid

Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Was ist schlimmer? Dass die Umwelt weiterhin in puncto Zuständigkeit ein Anhängsel der Landwirtschaft bleibt (was keineswegs zwingend ein Widerspruch sein muss, in der konkreten österreichischen Politik aber an den sprichwörtlichen Bock erinnert, der hier buchstäblich zum Gärtner gemacht wird)? Dass die Umwelt(!)ministerin für Schneekanonen, Tempo 140 auf Autobahnen und die umstrittene dritte Piste am Schwechater Flughafen eintritt? Dass sie wirksame klimapolitische Maßnahmen rundheraus ablehnt? Oder doch die angestrebte Senkung aller möglichen Standards, vom geschwächten UVP-Verfahren (im Regierungsprogramm auf Seite 134 als „Durchforstung der umweltrechtlichen Materiengesetze betreffend öffentliches Interesse hinsichtlich unbestimmter Gesetzesbegriffe“ verschwurbelt), das etwa den Widerstand gegen den teuren und schädlichen Lobautunnel brechen soll, über die plötzliche Zustimmung der FPÖ zu CETA bis hin — natürlich — zum Nichtraucherschutz, der auf die lange Bank geschoben werden soll. Alles Maßnahmen, die dazu führen werden, dass Menschen sterben, übrigens.
Dem gegenüber stehen vage Ankündigungen zu Klimazielen, Kohleausstieg und ähnlichem.

Aber daran sollen und wollen wir die neue Regierung ja nicht messen.

Was Ludwig wirklich sagt

Im Ö1-Mittagsjournal war heute der Wiener Wohnbaustadtrat und Kandidat für den SPÖ-Vorsitz, Michael Ludwig, zu Gast. Medien haben danach berichtet, er hätte die rot-grüne Koalition bis 2020 garantiert.

Das hat Ludwig dazu wörtlich gesagt:

“Wir haben auch in einem gemeinsamen Koalitionsprogramm die wichtigsten Punkte festgelegt. Wenn die nicht verändert werden, dann werden wir die Koalition bis zur Gemeinderatswahl durchleben.”

Im Klartext: Die SPÖ hat nur vor, die Koalition aufrecht zu erhalten, wenn alle offenen SPÖ-Forderungen im Regierungsprogramm kommen, und zwar so, wie die SPÖ das Programm auslegt. Die Lesarten der Parteien unterscheiden sich allerdings wesentlich.

Das betrifft natürlich vor allem den Lobau-Tunnel. In diesem Punkt deuten die Partnerinnen die Vereinbarung ja völlig gegenteilig, zwischen “der ist fix” und “der ist gestorben”. Ludwig ist der Kandidat jenes Teiles der Partei, der dieses Straßenbauprojekt nach Machart des 20. Jahrhunderts besonders heftig fordert.

Grüne Forderungen andererseits, vom Straßenbahnpaket bis zum Bildungsanwalt, sind bereits reihenweise gefallen oder bis zur Unkenntlichkeit zusammengekürzt. Ludwig gibt also keineswegs eine Garantie für die Koalition, sondern stellt vielmehr den Grünen die Rute ins Fenster.

Er folgt damit der aktuellen sozialdemokratischen Direktive, wie sie Christian Kern vor einigen Wochen ausgegeben hat: Grünwählern ein Angebot machen, ihnen eine Heimat bieten. Anders gesagt, so viele Wähler wie möglich von den Grünen abzuziehen und den Zustand von 1983 wieder herzustellen, als es links der politischen Mitte in Österreich nur eine Partei gab, nämlich die SPÖ.

Währenddessen sich die SPÖ also darauf vorbereitet, den Grünen in Wien endgültig den Teppich unter den Füßen wegzuziehen, diskutieren diese heute stundenlang, ob sich der Herr Hirschenhauser und seine Spalterpartie eh ernst genug genommen fühlen. Es ist so traurig, dass ich nur mehr lachen kann.

Von Dominos und toten Pferden

In den vergangen Tagen hat sich langsam herauskristallisiert, ob der Schock der verlorenen Nationalratswahl den Grünen tief genug in die Knochen gefahren war, dass man sich zu den nötigen einschneidenden Maßnahmen für den Überlebenskampf der Partei durchringen kann.

Man kann nicht.

Die Grünen stehen, wenn sie überleben wollen, vor zwei sehr großen Problemen. (Ich werde sie nicht klein reden, indem ich sie „Herausforderungen“ oder „Chancen“ nenne.) Eines davon ist wirtschaftlicher, das andere politischer Natur.

Wenn die Grünen jemals in irgendeiner Form wieder reüssieren wollen, können sie die Bundespartei nicht in Konkurs schicken. Die Landesparteien und ihre Klubs erhalten im Jahr mehrere Millionen Euro Partei- und Klubförderung. Das Geld der Klubs darf für die Sanierung nicht verwendet werden, wohl aber für die laufende politische Arbeit. Die Parteienförderung steht zur Disposition und kann für eine Sanierung verwendet werden.

Die Grünen werden dabei von ausgezeichneten Sanierungsexperten auf Bankenseite betreut, denen ich jederzeit zutraue, den Schaden so gering wie möglich zu halten. Bank und Partei ziehen dabei an einem Strang, da auch die Banken und die Gläubiger an einem Konkurs der Partei auf keinen Fall interessiert sein können. Die Sanierung steht und fällt aber damit, welche Einkünfte die Länder in den nächsten Jahren haben werden – die Bundespartei hat ja keine mehr. Selbst die ohnehin zu vernachlässigenden Mitgliedsbeiträge kassieren die Länder. Die einzigen nennenswerten Einkünfte der Landesparteien kommen aus der Parteienförderung, die wiederum von den Erfolgen bei den kommenden Landtagswahlen abhängt. Bleiben diese aus, scheitert die Sanierung. Im schlimmsten Fall reißt die Bundespartei die Länder mit in die Insolvenz und es entsteht ein Dominoeffekt, dem alle Landesparteien zum Opfer fallen. Es ist daher keine Option, die Parteiarbeit zur Gänze einzustellen und alles Geld in die Sanierung der Bundespartei zu stecken. Inhalte müssen weiter entwickelt, Wahlkämpfe geführt werden, und das braucht natürlich auch Geld. Ein Kompromiss mit langfristigen Plänen muss gefunden werden. Keine einfache Aufgabe, aber möglich.

Und in Wien? Die Wiener Grünen sind die größte und finanzstärkste Landesorganisation der Grünen, die daher auch den größten Teil der Sanierung schultern muss. Das Verkehrs- und Planungsressort ist das am besten geführte der Stadtregierung. Das ist noch kein besonderes Wunder, versagen doch die SPÖ-geführten Ressorts – Bildung, Gesundheit, Wohnen, Soziales, Finanzen – auf der ganzen Linie. Unter den Blinden ist bekanntlich der Einäugige König. Dennoch krankt die Planungs- und Verkehrspolitik an unkoordinierten Wünschen der Bezirken, die regelmäßig erfüllt werden. Neu gebaute Straßen sind überbreit, Verkehrsberuhigungen abseits der Mariahilfer Straße bleiben dürftig, neue Radinfrastruktur wird so gestaltet, dass man damit rechnen muss, dass da Menschen sterben, was im Sonnwendviertel in den ersten Monaten prompt passiert ist. Nach wie vor werden riesige völlig unnötige Büroflächen gebaut, dafür zu wenige Wohnungen.

Ich bin überzeugt, dass Maria Vassilakou, ganz unabhängig von ihrer eigenen Schuld oder Unschuld, ihr politisches Kapital verbraucht hat. Eine weitere Wahl ist mit ihr nicht zu gewinnen. Die Wiener Grünen müssen rasch ein neues Gesicht finden, das in die Bresche springen kann.

Die Zeit drängt. Im Jänner wählt die SPÖ ihren neuen Vorsitzenden. Das hätte den Grünen ein Zeitfenster gegeben, das Heft in die Hand zu nehmen und zu handeln. Sie werden dieses Zeitfenster ungenutzt verstreichen lassen.

In Zeiten einer schwarz-blauen Bundesregierung ist der Oppositionsführer nicht der SPÖ-Klubobmann im Parlament, sondern der Wiener Bürgermeister. Es wäre daher nur folgerichtig, dass Michael Häupls Nachfolger Christian Kern heißt.

Kern ist bei früheren Grünwählern ausgesprochen angesehen, höher als das eigene Führungspersonal der Grünen. Sein Wechsel nach Wien wird die Schleusen hier noch weiter aufreißen und den Abfluss der Wähler noch stärker beschleunigen, als das im Bund der Fall war. Kern wird in Neuwahlen gehen, sobald die Umfragewerte gut genug sind. Schwarz-Blau wird im Bund das alte Drehbuch von Wolfgang Schüssel nachspielen, nach dem Motto „speed kills“ jede Woche eine neue schlimme Maßnahme vorstellen. Zu Zeiten Schüssels hat das der SPÖ und Michael Häupl in den Umfragen und auch bei der Landtagswahlen 2001 und 2005 ausgezeichnete Werte gebracht. Es ist davon auszugehen, dass sich auch dieses Spiel wiederholen wird und die SPÖ schon im Frühsommer mit entsprechenden Umfragen rechnen darf. Wir müssen uns also auf Neuwahlen auch in Wien spätestens im Herbst 2018 einstellen. Wenn Kern nicht selbst in den Ring steigt, wird er jedenfalls im Wahlkampf eine sehr prominente Rolle spielen, was aus Sicht der SPÖ fast genau so gut ist.

Gleichzeitig steht, wenn man der Gerüchteküche glaubt, eine natürlich nicht offen deklarierte Wiener Organisation für Peter Pilz bereits Gewehr bei Fuß, sitzt in allen Grünen Gremien, verbreitet Zwietracht und Unordnung und bereitet, dem Vorbild aus dem Parlament folgend, mit Grünen Ressourcen die Gegenkandidatur vor. Wir werden sehen, wer aus dem Landtagsklub den Sirenenklängen folgen wird. Bei mehr als drei (Grünen oder auch Roten) Abgeordneten, die sich natürlich nicht gleich zu erkennen geben werden, wäre die rot-grüne Mehrheit im Landtag auch weg, und Pilz könnte sich den Wahltermin praktisch aussuchen. Die Rathausopposition würde jedem Neuwahlantrag mit Freuden zustimmen.

Das müssten die Grünen sofort tun, um das Ruder herum zu reißen:

Maria Vassilakou führt die Amtsperiode als Stadträtin noch zu Ende, aber noch vor dem SPÖ-Parteitag einigen sich die Grünen auf einen neuen Spitzenkandidaten für die nächste Landtagswahl. Als Termin böte sich die bereits terminisierte Landesversammlung im November an, bei der auch ein neuer Landesvorstand und andere Funktionen gewählt werden. Jemand Unverbrauchter aus der zweiten Reihe würde übernehmen. Es gibt einige wenige vielversprechende Kandidatinnen und Kandidaten, auch wenn niemand davon offensichtlich sofort mit der nötigen breiten Mehrheit rechnen könnte. Unter ihrer oder seiner Führung wäre ein Wahlprogramm und eine Strategie für den Umgang mit SPÖ und der Liste Pilz ausgearbeitet worden. Eine Arbeitsgruppe „Wahlkampf“ beginnt sofort mit der Entwicklung neuer Formate, die mit wenig Geld auskommen und die hohe Begeisterungsfähigkeit der AktivistInnen – eines der wenigen verbliebenen Assets, wenigstens in einigen Bezirken – nutzen könnten. Dann hätten die Grünen noch eine Chance gehabt. Eine Chance. Mehr auch nicht.

Nichts davon passiert. Die Partei hat nicht einmal die Dringlichkeit der Situation verstanden. Stattdessen wird, wie schon vor der Wahl, viel um den heißen Brei herum geredet, aber reichlich wenig Konkretes gesagt. Die Fronten bleiben ungeklärt, die Konflikte ungelöst.

Die Grünen reiten ein totes Pferd. Ich bin abgestiegen.

Und jetzt? Zu einer anderen Partei wechseln? Politische Arbeit aufgeben? Mich ins neue Biedermeier zurückziehen, wie es jetzt schon so viele machen? Wir werden sehen.

Ich verorte mich im politischen Spektrum eigentlich als Liberaler. Kern dieser Idee ist das Streben nach dem größtmöglichen Glück für die größtmögliche Zahl, und die Grünen vertraten dieses Streben für mich am glaubwürdigsten. Sicher, viele gaben es weniger billig und verlangten ein gutes Leben für alle, aber das ist nur die konsequente Fortführung dieses Gedankens. Warum sollte man akzeptieren, dass einige – viele – auf der Straße in einer bessere Welt am Wegesrand zurück bleiben? Wie viel Ungleichheit entsteht nicht aus dem eigenen Willen, sondern aus Strukturen, die diskriminieren und diese Diskriminierung verfestigen? Müssen, um echte Chancengleichheit herzustellen, nicht diese Strukturen immer wieder hinterfragt und in vielen Fällen auch verändert werden? Die Antworten auf diese Fragen mögen oft nicht die gleichen sein, aber in den Fragestellungen finden sich bei Linken und Liberalen größere Überschneidungen, als man auf den ersten Blick vermuten möchte.

Trotzdem, wenn ich mich in der aktuellen Situation in Österreich auf der linken Seite wiedergefunden habe, dann in erster Linie, weil das Zentrum schon in den 90ern so weit nach rechts gerückt ist. Humanistische Werte, klassische Bildung zu schätzen, die Schönheit in manchen Traditionen zu sehen, auch der bürgerliche Wunsch, mir selbst meinen Lebensunterhalt zu verdienen und die Früchte meiner Arbeit zu genießen, damit bin ich unter Grünwählern nicht alleine, und das sind alles Dinge, mit denen auch klassische Konservative, die von der heutigen ÖVP entsetzt sind, gut mit können. Ja, solche Leute habe ich bei den Grünen gefunden, und zwar in größerer Zahl, als der Außenauftritt nahe legte.

Bevor ich bei den Grünen eingestiegen bin, wären auch die NEOS für mich eine Option gewesen, zumindest theoretisch. In den 90er Jahren hatte ich eine sehr kurze Vergangenheit beim Liberalen Forum, also lag es nahe, diese neue liberale Partei zumindest eine Zeit lang wohlwollend zu beobachten. Liebe NEOS, hier ist der Deal: Wenn Euch eine ganze Periode, fünf Jahre, keine unglaublich reaktionären Ausrutscher passieren wie Unterstützung für Leute vom Schlag eines Christoph Vavrik oder eine Parteitagsmehrheit gegen die Ehe für Alle oder irgend etwas in diese Richtung, dann kaufe ich Euch das liberale Mäntelchen als genuin ab, wähle Euch gerne und stelle Euch auch meine Arbeitskraft zur Verfügung. Mit Irmgard Griss im Parlament wird das allerdings, fürchte ich, eine ziemliche Herausforderung werden.

Nein, aktuell gibt es keine Partei in Österreich, in der ich mich heimisch fühlen könnte. Wenn sich in einigen Jahren der Staub nach dem Grünen Zusammenbruch gesetzt hat und neue Bewegungen entstehen, wenn sich vielleicht der liberale Flügel in einer modernen, urbanen, weltoffenen Partei zusammenfindet, könnte sich das wieder ändern. Bis dahin werde ich mir wohl einzelne Anliegen suchen und gelegentlich das Wort erheben, aber auf institutionelle Politik für eine Weile verzichten.

Kassasturz

Wer am letzten Sonntag die Fernsehbilder von der Grünen Wahlversammlung im Theater Metropol gesehen hat, musste staunen. Fast allen stand die Überraschung ins Gesicht geschrieben. Man hatte mit Verlusten gerechnet, aber die parteiinternen Wetten drehten sich darum, ob man sechs, acht oder zehn Prozent einfahren würde. Ein Ausscheiden aus dem Parlament hatte praktisch niemand für möglich gehalten. Wir doch nicht. Wir sind seit drei Jahrzehnten im Parlament, wir gehören zum Inventar, wir haben eine starke Stammwählerschicht, die mit uns durch dick und dünn geht. So nicht verdient, diese Niederlage.

Hochverdient, diese Niederlage.

Nehmen wir einmal für einen Moment den Kopf aus dem Sand und machen Kassasturz. Fangen wir klein an.

Wir setzten auf unseren bewährten Straßenwahlkampf. Das können wir, da kopieren uns die anderen Parteien. Das ist unsere Stärke, das hat uns die größten Erfolge erkämpft. Die Sache hat nur einen kleinen Schönheitsfehler: Wir machen dasselbe wie seit zehn Jahren, sind Null innovativ. Wir wissen, dass wir uns damit längst nicht mehr abheben, dass uns die Anderen mit mehr Geld, mehr Ressourcen überrollen. Wir sehen das nicht als Grund, etwas zu ändern.

Wie anders der Wahlkampf für Alexander van der Bellen 2016. Der stand unter dem Motto des „kontrollierten Kontrollverlustes“. Da wurden die Menschen eingeladen, sich einzubringen, eigene Ideen zu haben, anzudocken und umzusetzen, was ihnen einfiel. Nicht alles war erfolgreich – wir haben viel Energie in eine App gesteckt, die nie live ging – aber es sind Dinge passiert, die es in dieser Form noch nicht gegeben hatte. Da war das Alexander-Lied, das wir mit einer Reihe spontaner größerer und kleinerer Chöre unter die Leute gebracht haben. Das war nur eine von zumindest Dutzenden Initiativen, und Spaß gemacht hat es auch noch. Damit haben wir ein Momentum erzeugt, mit dem wir Alexander van der Bellen in die Hofburg getragen haben. Heuer nahm ich diese Art innovativen, lustvollen Wahlkampf nur bei den Neos wahr.

Und bei uns? Zurück zum Ursprung, Verteilaktionen mit zu wenigen Anmeldungen, ein paar Auftritte vor Fernsehstudios („Gemeinsam für Ulrike“ ist das neue „Werner, der Kurs stimmt“), Plakatsujets, die wir schon kannten, ein halbherziger Social-Media-Wahlkampf, für den sich einige wenige Leute sehr ins Zeug geworfen haben, der am Großteil der Partei – und erst recht der Öffentlichkeit – aber spurlos vorüber ging. Mehr war wohl nicht zu erwarten, wenn sich einige Monate vor der Wahl praktisch das ganze Kommunikationsteam der Bundespartei über Nacht verabschiedete und auch der Mastermind der Kampagne bei Jung v Matt schon seinen Absprung vorbereitete (und mitten im Wahlkampf vollzog).

Zum Glück können wir auf solides politisches Personal setzen, oder?

Wir haben in Wien eine Vizebürgermeisterin, die vor zwei Jahren versprochen hat, zurück zu treten, wenn die Grünen Verluste einfahren. Die WählerInnen nahmen sie beim Wort, das sie prompt gebrochen hat. Früher war es unser Alleinstellungsmerkmal, dass wir Grünen genau so nicht sind. Wir haben (noch) niemanden in der Partei, der persönlich Geld für politische Gefälligkeiten nimmt, aber diese Art Sesselkleberei – und nicht etwa ein professioneller Außenauftritt und eine einheitliche politische Kommunikation – sind es, die in der Öffentlichkeit das Bild erwecken, dass wir eine Partei sind wie jede andere. Vor diesem Hintergrund wirken Slogans wie „Herz, Hirn, Haltung“ und „0% dirty“ für Leute außerhalb der Grünen Blase hohl, wenn nicht gar zynisch.

Der Rücktritt vom Rücktritt löste einiges Murren in der Partei aus, der große Aufschrei blieb jedoch aus. Stattdessen schoss man sich auf der Sachebene auf Vassilakou ein: Ein Bauprojekt, dessen Vorzüge und Nachteile sicher diskussionswürdig waren (ich persönlich war dafür, aber das tut nichts zur Sache), wurde zum Anlass genommen, ein halbes Jahr lang genüsslich in der Öffentlichkeit die Botschaft zu trommeln, dass sich die Grünen und ihre Führungsriege von ihren politischen Grundsätzen verabschiedet hätten, dass uns nicht zu trauen sei, dass wir mit unseren „natürlichen Feinden“ gemeinsame Sache machen und so weiter ad nauseam. Diese Botschaft musste verfangen, kam sie doch von den glaubwürdigsten aller Zeugen, nämlich aus der Mitte der Partei selbst. Dass zwei der prominentesten Vertreter dieser Gruppe heute nicht mehr bei uns sind, ist nur logisch. So konnten sie den Profit aus dieser Aktion lukrieren und ihre Sitze im Parlament behalten. Die führenden Proponenten sind aber nach wie vor in der Partei und weisen jede Mitverantwortung lauthals von sich.

Wenigstens haben wir sonst die besten Leute.

Andere Parteien haben große Institute, in denen sie ihre FunktionärInnen und MandatarInnen ausbilden, Karrieren entwickeln und ganz nebenbei von Anfang an ihre Leute in den Bundesländern miteinander vernetzen. Die Grünen hatten das nie, sie nahmen zwar das Geld der Republik dafür, aber sie haben es an die Länder verteilt, wo es dafür verwendet wurde, sich in Utopien (und nicht selten Absurditäten) zu ergehen, gelegentlich auch für innerparteiliche Stimmungsmache und Politik-Politik. Nein, um die Grüne Bildungswerkstatt ist es nicht schade. Sollte es die Partei jemals wieder ins Parlament schaffen, muss diese Lücke unbedingt vom ersten Tag an professionell gefüllt werden.

Nachsatz: In Wien ging das so weit, dass man offenbar die Notwendigkeit sah, für die Aufgaben, die die GBW eigentlich wahrzunehmen gehabt hätte, noch ein weiteres Mal eine Förderung zu kassieren, nur um dieses Geld wieder den gleichen Leuten zu geben, mit erschreckend magerem Ergebnis. Damit haben wir uns eine politische Flanke aufgemacht, in die Neos und andere mühelos hineinstoßen konnten. Ulrike Lunacek war in diesem Punkt in den TV-Duellen praktisch wehrlos. Zweimal Geld für die selbe Arbeit zu kassieren ist einfach nicht zu rechtfertigen. Natürlich konterkariert das auch gänzlich den Anspruch von sauberer Politik. Den Leuten ist es nämlich egal, ob es die Partei oder die Funktionäre sind, die kassieren.

Aber, unsere innerparteiliche Demokratie!

Stimmt schon, bei uns sind Regeln in Kraft, die in anderen Ländern selbstverständlich sind, in anderen österreichischen Parteien aber keineswegs. Wir haben eine Abneigung gegen Ämterkumulation und überlange Karrieren. Um sicher zu stellen, dass MandatarInnen nicht zu lange im Amt bleiben und sich abnutzen, stimmen wir nach der zweiten Amtszeit darüber ab, ob eine Kandidatin oder ein Kandidat noch einmal zur Listenwahl zugelassen wird, und verlangen dafür eine Zweidrittelmehrheit. Im Prinzip eine gute Idee, so stellt man eine Hürde auf und lässt sich die Letztentscheidung für besondere Fälle doch offen. In meinen drei Jahren bei den Grünen habe ich es kein einziges Mal erlebt, dass irgendjemandem diese Zweidrittelmehrheit verweigert wurde. Was ich sehr wohl dauernd erlebt habe, waren Leute, die schon seit 20 Jahren oder länger in irgendwelchen Vertretungskörpern sitzen. Was ich auch dauernd erlebt habe, war die Frage, wer denn in eine Führungsposition nachrücken könne, es sei ja niemand da. (In der Presse wird David Ellensohn als das Signal der Erneuerung gehandelt. Dazu erübrigt sich jeder Kommentar.)

Könnte es sein, dass zwischen den beiden Dingen irgendein Zusammenhang besteht?

Ich frage mich, warum das so ist, und ich finde keine Erklärung. Können wir uns Grüne Politik ohne XY einfach nicht vorstellen? Natürlich wollen wir verdienten Leuten nichts Böses, aber ist das Grund genug, sie immer wieder zu wählen? Sind die, die das betrifft, einfach so mächtig in der Partei, dass man sie nicht los wird? Sind sie so unverzichtbar? Wie haben sie sich unersetzlich gemacht? An der Qualität der Politik (allein) liegt es nicht, sonst würden wir nicht immer wieder auch ausgezeichnete Leute nach ein, zwei Amtszeiten ohne Vorwarnung abwählen. Woher kommt diese Disparität? Liegt es wirklich an den vielzitierten Seilschaften? Ich will nicht leugnen, dass es die gibt, aber meiner Wahrnehmung nach sind sie nicht stärker ausgeprägt als in anderen Parteien. Was den Grünen jedoch im Vergleich zu anderen Parteien fehlt, ist ein Mechanismus des Interessensausgleichs zwischen solchen Gruppen. Für eine Partei, die sich gerne „links“ nennt, ist das eigentlich sehr seltsam. Linke Politik ist Politik des kollektiven Interessensausgleichs, gleichzeitig ist unser Wahlmodus so individuell wie nur möglich.

Das führt natürlich auch dazu, dass wir keinerlei Strategie haben, um die einzelnen Politikfelder abzudecken. Wir haben dann drei MenschenrechtssprecherInnen (nur ein Beispiel, aber aus der Praxis gegriffen), aber keinen Bildungssprecher, eines unserer zentralen Wahlkampfthemen. Niemanden, der prominent für leistbares Wohnen eintritt, ein weiteres. Unsere Spezialisten für Kontrolle haben wir abgewählt, nicht nur Peter Pilz, sondern auch – viel signifikanter – Gabi Moser. Natürlich merken es die Leute, wenn wir versuchen, Themen zu setzen, und gleichzeitig den Vertretern dieser Themen den Platz auf der Liste verweigern. Das passiert bei jeder einzelnen Listenwahl. So untergraben wir systematisch unsere Glaubwürdigkeit.

Nur dem Ausgleich der Geschlechter wird durch einen Formalismus Rechnung getragen, und das ist natürlich zu wenig.

Jetzt rührst du aber an die Grundwerte!

Politische Parteien sind Wertegemeinschaften, und ich wäre nicht bei den Grünen, wenn ich unsere sechs Grundwerte nicht vollinhaltlich unterschreiben könnte. Unser Umgang damit muss aber anders werden. Zu oft tragen wir sie wie ein Regimentsbanner vor uns her und verwenden sie in der Auseinandersetzung, wie es uns passt. „Das geht jetzt aber an die Grundwerte“ ist ein viel verwendeter Schlachtruf, wenn es besonders hitzig wird. Abwägungen und Interessensausgleich findet in solchen Situationen nicht mehr statt, wertschätzende Kommunikation schon gar nicht. Dafür gibt es Empörung und Selbstgerechtigkeit bis zum Abwinken.

Gendergerechte Sprache ist wichtig als Instrument der Sichtbarmachung und Bewusstseinsbildung, aber diese Ziele erreicht man nicht, indem man mechanisch „-Innen“ an alle möglichen Substantive anhängt. Diese Form des Genderns beschert uns Stilblüten wie „Elterinnen“ (Eva Glawischnig in einer Pressestunde) oder „WerbeträgerInnen“ (im Sinne von Plakatständern, gesehen in einem BV-Antrag), und zwar regelmäßig. Wir erweisen mit diesen hohlen Gewohnheiten nicht nur unserem feministischen Grundwert einen Bärendienst, wir machen uns damit auch vor der Öffentlichkeit ohne Not lächerlich. In nehme in dieser Frage keine Expertise für mich in Anspruch, aber wir brauchen hier bessere Lösungen und neue Wege.

Was wir brauchen, sind neue Ausdrucksformen für unsere Werte. Selbstbewusst, aber nicht arrogant, haltungstreu, aber gelassen, klug, aber bescheiden, und ein Schuss Selbstironie schadet auch nicht. Weniger Beißreflex, mehr Empathie.

Aber wenigstens haben wir das Herz am rechten Fleck und wollen das Richtige!

Die Sprache ist nicht das einzige Gebiet, auf dem wir an unseren eigenen Ansprüchen scheitern. Wir unterschätzen immer wieder die symbolische Wirkmacht, die dieses Scheitern entfaltet. Im aktuellen Wahlkampf war das unter anderem der Dieselbus. Ja, ich weiß, es gab kein besseres Angebot, schon gar nicht als Mietwagen. Aber wie können wir von den Leuten verlangen, dass sie ihr Leben – teilweise recht einschneidend – verändern, wenn wir selber immer wieder erkennen müssen und in aller Öffentlichkeit demonstrieren, dass es die nötigen Ressourcen für diese Veränderungen gar nicht gibt? Und warum beharren wir dann stur darauf, statt innovativ neue Wege zu suchen, Vorschläge zu erarbeiten, die noch nicht am Tisch liegen, und die den Weg in eine bessere Zukunft auch realistisch gangbar machen? Das wäre eine Aufgabe für neue Grüne. Nicht nur das Ziel zu benennen, sondern realistische Wege zu finden, mit kleinen, leicht verdaubaren Schritten, die uns nicht nur hypothetisch, sondern tatsächlich weiter bringen.

Viele werden jetzt sagen: „Aber wir haben ja eh kommuniziert…“ Das stimmt, aber wir benehmen uns dabei wie Eltern, die ihren Kindern das Eine vorschreiben und selbst das Andere tun. Egal wie differenziert unsere Vorschriften sind, und wie sinnvoll, und wie gut wir sie erklären: Das praktisch vorgelebte Beispiel wirkt stärker. Am Ende bleibt über, dass wir uns arrogant, von oben herab, benommen haben, und dass wir Wasser predigen und Wein trinken. Wer soll so eine Partei eigentlich wählen?

Ja, wer eigentlich? Und wer soll sich dafür engagieren? Zeit, Arbeit, Herzblut hineinstecken?

Um ehrlich zu sein, ich bin in der aktuellen Situation nicht sicher. Trotzdem, zu einem Kassasturz gehört zur Soll- auch die Habenseite:

Die Grünen sind immer noch die einzige Partei in Österreich, die von den Grundlagen unseres Lebens reden: Saubere Luft. Sauberes Wasser. Gesundes Essen. Böden, die so gesund sind, dass wir uns davon ernähren können. Ein Klima, in dem menschliches Leben auf der Welt in genügender Zahl möglich ist. Nein, die anderen Parteien haben diese Inhalte, wie oft behauptet wird, nicht übernommen. Viele arbeiten aktiv dagegen, graben der Menschheit, wie buchstäblich in Oberösterreich passiert, das Wasser ab. Das können wir nicht einfach geschehen lassen.

Die Grünen halten als einzige Partei aktiv an dem fest, was früher der „antifaschistische Grundkonsens“ der zweiten Republik hieß. Der Widerstand gegen das, was uns jetzt bevor steht, war der wichtigste Grund, warum ich Grüne im Parlament sehen wollte. Diese Strukturen haben wir jetzt verloren. Viele Netze, viele Menschen sind aber noch da. Werden wir neue Organisationsformen finden? Wir müssen.

In vielen Punkten schien mir die Grüne Sichtweise, oder die Sichtweise einzelner Grüner, über einen unverstellteren Blick auf Probleme und Lösungen zu verfügen, als ich das in anderen Parteien finde. Die Frage des sozialen Friedens ist ein solcher Punkt. Diesen anzugreifen und zu schwächen, hilft den Extremisten. Sie werden darauf in den nächsten Jahren aus allen Rohren schießen.

Was wäre die Alternative?

Die Grünen können natürlich noch zwei, drei Jahre so weiter machen. Nach einer kurzen schockbedingten Phase erhöhten Zulaufs, von dem wir uns auf keinen Fall blenden lassen dürfen, werden sich die Leute wieder abwenden. Wir werden dann nach und nach aus den Landtagen fallen, am Ende bleibt ein kleiner Rest Unverbesserlicher, die von früherer Größe träumen, vielleicht da und dort ein Gemeinderat oder eine Bezirksrätin.

Mir wäre das zu wenig. Hoffen wir, dass es nicht so kommt. Die Entscheidung fällt sehr bald.